13. Jahrgang | Nummer 21 | 25. Oktober 2010

Zeus´Diarium

von Heinz W. Konrad

Für einen Rezensenten gilt es zu Recht als unschicklich, Klappentexte zu vereinnahmen. Was hilfts – der von Raddatz´Tagebuch triffts so gut, dass ich dem Codex fröhlich zuwiderzuhandeln bereit bin: „Ein Buch wie dieses hat es noch nicht gegeben. Von Augstein bis Marion Dönhoff, von Grass bis Enzensberger, von Hochhuth bis Kempowski zeigt es die deutschen Intellektuellen, ja überhaupt die ganze bundesrepublikanische Gesellschaft, wie sie so hellsichtig nie beschrieben worden ist: wahrgenommen mit dem Sensorium eines Hochempfindsamen, subjektiv und zutreffend, anteilnehmend, scharfzüngig. Das Buch, das von der Kritik immer erhofft, von den Schriftstellern aber nie geschrieben worden ist – der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik, das Balzacsche Porträt unserer Zeit –, hier ist es.“

Buch und Autor sind präzise charakterisiert, lässt man bei dieser Adelung außer Betracht, dass es sich hier nicht um einen „Gesellschaftsroman“, zumal noch „d e n  Gesellschaftsroman“ handelt; besteht ein Gemeinwesen doch aus mehr als nur aus seinem Kulturbetrieb und dessen intellektuellen Protagonisten.

Dennoch: Aufschlussreiche Einblicke vor allem in eben diesen niveauprägenden Kultur- und Literaturbetrieb gibt es in diesen Aufzeichnungen unendlich viele, und sie bedienen mit der Brillanz ihrer Analytik keineswegs nur Voyeuristen (die allerdings auch) – so ists nun mal bei Aufzeichnungen, die ursprünglich nur für den Chronisten selbst gedacht waren und sich schon deshalb durch Schonungslosigkeit auszuzeichnen pflegen. Und bei denen es inakzeptabel wäre, sie im Falle einer späteren Drucklegung auf Opportunitäten hin zu bearbeiten.

Was bleibt nach der Konsumierung der fast 1.000 spannenden Seiten? Vielleicht so viel: Der (hier weitestgehend westdeutsche) Kulturbetrieb mit all seinen Eitelkeiten, Gehässigkeiten, Kumpaneien, Opportunismen, aber eben auch ehrlichen Freundschaften und Lauterkeiten besteht halt auch nur aus Menschen. Und Fritz Raddatz, dem von manchen davon allemal  etwas anhaftet, ist als Autor freilich ein ebensolcher. Nur eben: Seine Intelligenz und sein Narzissmus sind dergestalt, dass nahezu nichts und niemand, an seinen Maßstäben gemessen, Bestand hat. Gar zu hoch liegt die Latte für Intelligenz, Bildung und Moral, auf dass es aussichtsreich wäre, diese zu überqueren und sich Fritz Raddatz als Gleichem zugesellen zu können. Obwohl dies sicher erstrebenswert wäre, denn die analytische Brillanz des Journalisten, Publizisten, Verlegers, Essayisten und Schriftstellers sind ohne Zweifel bemerkenswert. Jede Menge großer Namen der westdeutschen Literatur, Publizistik und Politik bekommen diese Gabe in seinen Aufzeichnungen gnadenlos zu spüren.

Am besagten Handicap des Raddatzschen Beziehungskanons ändert aber auch jene Handvoll an Freundschaften nichts, die diesen Status erkennbar wirklich verliehen bekommen und in ihrer Zusammensetzung gar erstaunlich sind (Grass  u n d  Hochhuth!). Selbst die intimen Lebenspartnerschaften sind nur die Ausnahme von der Regel. Und so sitzt Fritz Raddatz auf dem Olymp ganz oben, wo es ohne weitere Olympier sehr einsam ist.

Das ist vielleicht auch das Berührendste an diesem Buch: Raddatz – der ungemein potente Intellektuelle, in der Welt der Literatur und der schönen Künste zu Hause wie kaum ein zweiter, der gern in Anspruch genommene Gastgeber und, wo selbst zu Gast, als geistvoller Unterhalter willkommen –, Fritz Raddatz möchte so sehr geliebt werden und findet eben diese Liebe nahezu nirgends. Das macht endgültig einsam.

Sollte der Leser seines Buches diesen eigentlich tragischen Umstand nicht selbst herausfinden (was eigentlich unmöglich ist), leistet Raddatz vorsorglich unentwegt Hilfe. Er weiß um seine scharfrichterlich elitäre Intelligenz, seinen damit verbundenen Hochmut und das Fehlen jeglichen Opportunismus´, mit dem man üblicherweise nach Gefallen und Akzeptanz sucht. So wie er sich quer stellt zu jedweder Beflissenheit, so stellt er sich selbst immer wieder infrage. Nur eben: „Hier steh´ ich und kann nicht anders“ – ein historischer Satz, wie geschaffen für Fritz J. Raddatz.

Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982-2000. Rowohlt Verlag, Hamburg 2010, 940 Seiten, 34,95 Euro