13. Jahrgang | Nummer 21 | 25. Oktober 2010

Eine Brücke nach Deutschland

von Birgit Svensson, Bagdad

Es war ein ziemlicher Schock. Die Klassenzimmer voll mit Müll, die Toiletten übersät mit Taubendreck, Löcher in den Wänden. Eine Klimaanlage gab es nur im Lehrerzimmer, die Fenster waren undicht. So sah das Schulgebäude an der Golan-Straße im nordirakischen Erbil aus, als Schulleiter Jürgen Ender es zum ersten Mal im Juni betrat. Die sich bis dahin dort befindliche Mädchenschule war gerade in ein neues, moderneres Gebäude umgezogen. Die Stadt Erbil stellte es den Deutschen zur Verfügung. Denn entgegen allen ursprünglichen Bedenken platzte die Deutsche Schule Erbil (DSE) schon vor ihrer Eröffnung Mitte September aus allen Nähten. Eigentlich sollte klein angefangen werden, mit zwei Grundschul- und zwei Vorschulklassen. Dafür hatte man sich zur Untermiete mit einer kurdischen Schule arrangiert, die bereits einen Schwerpunkt auf Deutschunterricht legt. Doch bald wurde klar: Vier Räume reichen nicht. Täglich kamen neue Anmeldungen. Dringend musste ein größeres Gebäude gefunden werden. Nun lernen 121 Kinder in sieben Klassenzimmern an der ersten deutschen Schule im Irak – ein Rekord für eine beginnende deutsche Auslandsschule.

Die achtjährige Sahra ist vor neun Monaten aus Kassel mit ihrer Familie nach Irak-Kurdistan zurückgekommen und seitdem unglücklich. „Ich vermisse meine Freunde, meine Schule“, jammert sie und starrt gebannt auf das deutsche Fernsehprogramm, das im Wohnzimmer jeden Abend läuft. Ihre beiden älteren Geschwister sind noch in Kurdistan geboren, bevor die Familie vor zwölf Jahren auf abenteuerliche Weise mit Schlepperbanden über die Türkei nach Italien und schließlich nach Deutschland kam. Sahra aber ist Deutsche, in Kassel zur Welt gekommen. So jedenfalls fühlt sie sich und betont es immer wieder. Als ihre Eltern den Entschluss fassten, nach Kurdistan zurückzugehen, weinte sie bitterlich. „Ich konnte doch kein Kurdisch“, gibt sie als Begründung an, „nur Deutsch“. Ihre Weigerung, die neue Heimat anzunehmen, treibt zuweilen seltsame Blüten. „Sie isst nur deutsches Brot“, erzählt Mutter Adiba verzweifelt. Sahra hat schon mehrere Kilo abgenommen. Auch die beiden weißen Zwerghasen, die angeblich aus Deutschland stammen, können die Kleine kaum trösten. Nur die deutsche Schule, in deren zweite Klasse sie jetzt geht, entlockt ihr ein Lächeln. „Dort treffe ich andere, die so sind wie ich.“

Sahra ist kein Einzelfall. Seit dem Sturz Saddam Husseins vor gut sieben Jahren kehren immer mehr Kurden aus dem deutschen Exil in den Irak zurück. Nach neuesten, offiziellen Zahlen des Innenministeriums, haben von Januar bis Juli knapp 300 Personen die Rückreise angetreten. Die Direktflüge aus Deutschland nach Erbil sind gut ausgelastet mit Rückkehrern. Erbils Oberbürgermeister Nihad Qoja schätzt, dass bereits bis zu 10.000 seiner Landsleute zurückgekommen sind, wenn auch meistens zunächst einmal nur „die Väter schnuppern kommen“. Damit die Familien nachziehen können, muss die Schulsituation geklärt sein. Bisher sind die Kinder in die kurdischen Schulen integriert worden, haben Übergangszeiten von bis zu zwei Jahren bewilligt bekommen, bevor sie benotet wurden. Doch auch die Eingewöhnungsphase löst nicht das kulturelle Problem. Aufgewachsen in einer offenen, kritisch denkenden Gesellschaft, müssen sie sich mit erzkonservativen, autoritären Strukturen auseinandersetzen. „Alle wollen gleich meine Freunde sein, und dass ich so werde wie sie“, fasst Sahra den Kulturunterschied aus ihrer Sicht zusammen. „Dabei will ich mir meine Freunde selbst aussuchen.“

Dass diese Kinder ein Potenzial für die Zukunft sein können, hat die Bundesregierung inzwischen erkannt und die Deutsche Schule nach Kräften unterstützt. „Sie werden die Brücke zwischen uns und dem Irak“, so der für Kultur und Bildung zuständige Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt. Mit etwa 2.500 Euro Schulgeld im Jahr ist die Deutsche Schule eine der preiswerteren Privatschulen in Erbil. Ein Mix aus öffentlichen Geldern, Schulgebühren und privaten Sponsoren hält sie am Laufen. Schulleiter Jürgen Ender will aber auch Stipendien für begabte Kinder organisieren, deren Eltern sich das Schulgeld nicht leisten können. Mit dem Abschluss der dreizehnten Klasse werden die Schüler der DSE das deutsche Abitur und damit die Berechtigung zum Studium an einer deutschen Hochschule erhalten. Diese Zusage seitens der deutschen Kultusministerkonferenz war die Bedingung für die kurdische Regionalregierung, sich auch finanziell an dem Projekt zu beteiligen. Sahra hat schon einige Schultage hinter sich, bevor nun offiziell die Schule eingeweiht wird. Von Taubendreck und Löchern in den Wänden ist nichts mehr zu sehen. Im Eiltempo wurde das Gebäude flott gemacht. Nur der Container mit den Schulmöbeln aus Deutschland kam nicht mehr ganz rechtzeitig. Wegen des Zuckerfestes am Ende des Fastenmonats Ramadan hing er an der Grenze zwischen der Türkei und dem Irak fest.