von Alfons Markuske
Lohnt es, wegen vierer Gemälde nach Dresden zu fahren? In diesem Fall – ja. Gemeint ist die Ausstellung „Der frühe Vermeer“, die in der Dresdner Gemäldegalerie bis 28. November gezeigt wird. Dort sind zwar auch noch knapp zwei Dutzend Werke von Zeitgenossen des Delfter Malergenies und andere Exponate zu sehen, aber eben nur vier von Johannes Vermeer (1632-1675) selbst. Von Jan Vermeer van Delft, wie der Künstler heute üblicherweise genannt wird, sind ja überhaupt nur etwas über 30 sicher zugeordnete Arbeiten auf uns gekommen.
Im Zentrum der intimen Dresdner Schau steht das Bild „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ aus der Zeit um 1659, das zur ständigen Dresdner Sammlung gehört. Studenten und Diplomanden der Hochschule für Bildende Künste Dresden erarbeiteten eine begehbare Rekonstruktion des von Vermeer dargestellten Bildraumes mit seiner gesamten Ausstattung einschließlich einer lebensgroßen Figur und des Kostüms der Briefleserin. Und ein ausführlicher, höchst informativer Film zur Exposition verrät, was dabei sowie in begleitenden röntgenologischen und anderen Untersuchungen des Bildes über den Aufbau desselben und die Arbeitsweise Vermeers zutage kam. Etwa, dass Vermeer die Spiegelung des Mädchens im offenen Fenster in einer Weise darstellte, die dem Auge des Betrachters mehr bietet, als bei der Positionierung des Mädchens zum Fenster in der physischen Realität möglich wäre. Oder, dass im rechten oberen Bildhintergrund die Gestalt eines zunächst in fast gleicher Größe wie das Mädchen abgebildeter Cupido vom Maler komplett getilgt worden ist, wodurch die zuvor nach zeitgenössischen Maßstäben recht eindeutige Aussage des Bildes – Cupido mahnt zu ehelicher Treue – ins der Interpretation durch den Betrachter überlassene Unbestimmte gewendet wurde. Auch ein Glaspokal am rechten unteren Bildrand wurde durch den dort nun zu sehenden grünen Vorhang komplett überdeckt. Und wie bei den Bilduntersuchungen ermittelt wurde, dass dieser Vorhang gar nicht zum organischen Bildraum gehört, sondern ein vorgesetztes Trompe-l’Œil–Element ist, das auch bei Zeitgenossen Vermeers des öfteren Verwendung fand, wofür die Exposition ebenfalls Beispiele zeigt, das hat schon Elemente eines Kunst- und Wissenschaftskrimis.
In ein bis anderthalb Stunden hat man diese Ausstellung genossen. Danach bietet sich, da man sich ja schon in deren Räumen befindet, ein zusätzlicher Gang durch die grandiose Gemäldegalerie selbst an. Wer aber die Gelegenheit eines Aufenthaltes in Dresden nutzen will, um noch mehr ganz Neues zu erleben, dem sei ein Wechsel über die Straße ins Residenzschloss wärmstens empfohlen. Dessen Fassaden sind ja inzwischen komplett wieder hergestellt, nicht so jedoch sämtliche Innenräume. Da gibt es noch einen großen Bereich, der sich im „Rohbau“ präsentiert – ohne Putz oder gar Farbe, mit sichtbaren, rekonstruktionsbedingten Betonelementen, und gerade in diesen Räumen wird noch bis 7. November die Ausstellung „Zukunft seit 1560. 450 Jahre Staatliche Kunstsammlungen Dresden“ gezeigt.
Diese Exposition entfaltet ein ebenso artefaktereiches wie faszinierend-bildendes Panorama zur Entstehungsgeschichte und zur Entwicklung aller Bereiche der Dresdner Kunstsammlungen – also nicht nur der Gemäldegalerie, der Porzellan-, der Schmuck- und Pretiosensammlung, sondern auch der natur- sowie der völkerkundlichen und der weiteren insgesamt zwölf Sammlungen.
Da steht man etwa vor der Drahtziehbank Augusts des Starken, die nicht nur von ihrer Mechanik her imposant ist, sondern mit sich über die viereinhalb Meter ihres massiven Gestells erstreckenden edelhölzernen Intarsien auch ein kunsthandwerkliches Meisterstück. In Zeiten knapper Kassen wurde das Stück später verkauft, landete im europäischen Ausland und ist nun als Leihgabe wieder zeitweise in Dresden zu sehen. Das gilt auch für die Gemälde der vier Jahreszeiten von Guiseppe Arcimboldo – jene aus Früchten, Blättern und Blüten komponierten menschlichen Halbporträts im Profil, die zugleich die vier Lebensalter des Menschen symbolisieren. Die früher in Dresden beheimatete Serie – Arcimboldo schuf ihrer mehrere – hat heute ihren Standort im Louvre.
Apropos Gemälde – über Hans Holbeins d. J. Großporträt des Charles de Solier, Sieur de Morette, französischer Gesandter in London, lernt, wer es noch nicht weiß, daß das unter August des Starken Sohn August III. in Italien erworbene Bild anderthalb Jahrhunderte Leonardo da Vinci zugeordnet worden war, bevor eine im Nachlass eines Londoner Kunsthändlers aufgefundene Zeichnung die richtige Zuordnung ermöglichte. Und – nicht weniger interessant – Holbeins Hausmadonna für den Basler Bürgermeister Jakob Meyer zum Hasen musste lange Zeit mit einer kaum minder meisterlichen Kopie eines Malerkollegen um die Einstufung als Original konkurrieren.
Beeindruckend und Mahnung zugleich sind die Werke von Künstlern, die von den Nazis als „Entartete Kunst“ eingestuft worden und – soweit nicht vernichtet – über den Kunsthandel verkauft worden waren. Einige davon sind als Leihgaben nun wieder kurz in Dresden zu sehen. Das gilt nicht für das einzigartige Triptychon „Das Tausendjährige Reich“ von Hans Grundig, das zum ständigen Bestand in Dresden gehört und das die Ausstellung ebenfalls zeigt.
Zu den Paradoxa der Geschichte im Zusammenhang mit den Dresdner Sammlungen gehört zweifelsohne, dass der Direktor der Gemäldegalerie, Hans Posse, der in den 20er Jahren Künstler der deutschen Avantgarde förderte und Werke von ihnen für die Dresdner Sammlung erwarb, die später als „entartet“ galten, und der von den Nazis 1938 aus dem Amt gedrängt wurde, sich später dafür zur Verfügung stellte, aus in ganz Europa zusammengeraubter Kunst den Fundus für das von Hitler geplante so genannte Führermuseum in Linz mit zusammenzustellen. Auch diesen Aspekt spart die Dresdner Schau nicht aus.
P.S.: Wer einen Tagesausflug nach Dresden plant, sei auf der Hut. Damit kein Besucher ganz umsonst nach Elbflorenz kommt, arbeitet man dort mit wechselnden Schließtagen. Das bedeutet aber auch – die Gemäldegalerie ist montags, das Schloss dienstags nicht geöffnet. Wer also beide Ausstellungen sehen möchte, der reise ab Mittwoch.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Dresden, Gemäldegalerie, Hans Posse, Jan Vermeer