von Wolfgang Schwarz
Auf dem nächsten NATO-Gipfel in Lissabon im November soll die neue Strategie der Allianz der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Nach allem, was darüber bisher bekannt geworden ist, wird dieses für die nächsten Jahre gedachte Sicherheitskonzept eines zumindest nicht enthalten – einen tragfähigen Ansatz für eine grundlegende Neugestaltung des Verhältnisses zu Rußland. Zwar wird kaum mehr ernsthaft bestritten, daß dauerhafte Sicherheit in und für Europa beziehungsweise den gesamten euroatlantischen und -asiatischen Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok nicht ohne und schon gar nicht gegen Rußland zu haben ist. Was jedoch nach wie vor fehlt, ist die praktische Konsequenz aus dieser Gegebenheit, nämlich Moskau als gleichwertigen und gleichrangigen Partner zu akzeptieren und zu behandeln. Dafür gibt es in der NATO offenbar nach wie vor unüberwindliche Hürden – vor allem in Gestalt der USA. Dort geben unverändert Kräfte den Ton an, die mit einem Denken in Kategorien von gemeinsamer oder kollektiver Sicherheit wenig bis nichts anfangen können oder wollen, die ihre Versuche nicht aufgegeben haben, den russischen Bären am Nasenring zu führen und selbst zu definieren, „welche russischen Interessen rechtmäßig sind und welche nicht“, um es mit den Worten des früheren Chefs der Europa-Abteilung des State Departments und jetzigen Leiters des Transatlantic Centers des German Marshall Fund in Brüssel, Ronald D. Asmus, zu sagen.
Rußland seinerseits hat seit dem Jahre 2008 durch seinen Präsidenten Dmitri Medwedjew wiederholt sein Interesse und seine Bereitschaft bekundet, eine einheitliche Sicherheitsarchitektur für den Raum von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen und sich völkerrechtlich bindend in diese zu integrieren. Und Rußland hat dafür Ende vergangenen Jahres als Gesprächs- und Verhandlungsgrundlage den Entwurf eines 14 Artikel umfassenden „Vertrages über europäische Sicherheit“ allen in der vorgeschlagenen Vertragsregion angesiedelten Staaten unterbreitet. Daß damit nicht, wie rasche westliche Kommentare unterstellten, intendiert war, die sicherheitsrelevanten, in dieser Region bereits bestehenden Bündnisse und anderen internationalen Zusammenschlüsse (NATO, EU, OSZE, GUS, ODKB) zu relativieren oder gar zu ignorieren, wird bereits daran deutlich, daß der Vertrag all diesen Organisationen ausdrücklich offen stehen soll (Artikel 10 des Entwurfs) und daß der Vertragsentwurf auch ihnen direkt zugeleitet wurde.
Durchaus naheliegend ist da schon eher die Frage, worin angesichts der vorhandenen Vielfalt europäischer Sicherheitsbausteine der Sinn eines weiteren bestehen soll. Den verdeutlichte der russische Außenminister, Sergej Lawrow, als er erläuterte, daß es darum gehe, die „gesamte patchworkhafte Architektur der europäischen Sicherheit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, und zwar nicht auf der Ebene der Militärpotenziale und des Gleichgewichts der Kräfte, sondern auf der institutionellen Ebene, also durch die Übertragung des gesamten Komplexes politischer Verpflichtungen in juristische“. Und daß Rußland diesen Ansatz nicht nur deklaratorisch verfolgt, zeigen jene Passagen des Vertragsentwurfs, in denen mögliche zwischenstaatliche Instrumente und Handlungsabläufe für den Fall von Streitfragen und Vertragsverletzungen, insbesondere ein mehrstufiger Mechanismus von Konsultationen und Verhandlungen zur Prävention und zur Bewältigung von Krisen und Konflikten entwickelt werden (Artikel 3 bis 8 des Entwurfs).
Der Kerngedanken des russischen Vorschlags besteht darin, die „Prinzipien der unteilbaren und gleichen Sicherheit und der Unverletzlichkeit der Sicherheit“ im Geltungsbereich des Vertrages rechtsverbindlich festzuschreiben (Artikel 1) und gleichzeitig eine Option auf die globale Ausweitung dieser Prinzipien zu vereinbaren (Artikel 13). Gleiche Sicherheit für alle soll dabei dadurch erreicht werden, daß kein Mitgliedstaat Schritte unternimmt oder auch nur sein Territorium für entsprechende Schritte Dritter zur Verfügung stellt, die die Sicherheit anderer Mitgliedstaaten beeinträchtigen (Artikel 2). Sollte es dennoch zum Angriff auf einen der Vertragsstaaten kommen, soll jeder andere Vertragsstaat dies als Angriff auf sich selbst werten und dem Angegriffenen mit dessen Einwilligung militärische Hilfe leisten können, solange der UNO-Sicherheitsrat keine Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens getroffen hat (Artikel 7).
Die offiziellen westlichen Reaktionen auf den russischen Vorschlag haben sich bisher im Wesentlichen auf eine Trinität von Schweigen, Ausflüchten und Ablehnung beschränkt. US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte: „Die Unteilbarkeit von Sicherheit ist ein Kernelement der Reformvorschläge, die Rußland … gemacht hat. Wir unterstützen das Ziel – nicht aber den russischen Ansatz. Wir sehen die beste Lösung darin, bestehende Institutionen wie die OSZE … zu stärken, statt neue Verträge zu schließen, wie Moskau vorgeschlagen hat.“ Es ist aber gerade das die OSZE kennzeichnende grundsätzliche Manko, über keine rechtsverbindlichen Regeln zu verfügen, dem der russische Vorstoß abhelfen soll. Laut Lawrow habe die OSZE den NATO-Angriff auf das OSZE-Mitglied Jugoslawien 1999 nicht verhindern können, und sie war dazu, so bleibt zu ergänzen, auch im Hinblick auf den Konflikt zwischen Georgien und Rußland 2008 nicht in der Lage.
Um ihre fehlende völkerrechtliche Verbindlichkeit zu überwinden, wolle Rußland, so der russische Außenminister auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres, die OSZE in eine vollwertige internationale Organisation umwandeln und das Prinzip der unteilbaren Sicherheit als völkerrechtliche Norm verankern.
Die USA ihrerseits wollen sich die Handlungsfreiheit zu militärischen Interventionen, selbst wenn sie – wie im Falle Jugoslawiens – nicht von der UNO mandatiert sind, offensichtlich auch künftig erhalten. Die diplomatische Pirouette von Hillary Clinton offenbart dieses Bestreben eher, denn daß sie es kaschierte. Daß der russische Vertragsentwurf gerade wegen der angestrebten völkerrechtlichen Verbindlichkeit für Washington „von vornherein politisch unattraktiv“ gewesen sei, wie der Ex-Staatssektrtär im Bundesverteidigungsministerium, Lothar Rühl, bemerkte, dürfte den Nagel auf den Kopf getroffen haben.
Demgegenüber scheint Moskau bereit zu sein, sich auf gegenseitiger Grundlage Regularien zu unterwerfen, die höhere Hürden gegen militärischen Interventionismus errichten könnten. Der Sicherheit zwischen Vancouver und Wladiwostok abträglich wäre das ganz gewiß nicht.
Als ein Haupthindernis für eine ernsthafte Diskussion der russischen Initiative in der NATO gelten nicht zuletzt die antirussischen Ressentiments der osteuropäischen, früher zur Sowjetunion gehörenden oder mit dieser verbündeten Staaten. Für diese Ressentiments gibt es historische Gründe, die zu respektieren sind. Eine zukunftsfähige Basis für die Beziehungen zu Rußland sind diese Ressentiments aber nicht. Mögen diese Staaten auch mehr als andere NATO-Mitglieder auf Artikel V des NATO-Vertrages – kollektive territoriale Verteidigung im Falle eines Angriffs – insistieren, so sollten sie doch die Augen nicht davor verschließen, daß der Fall des Falles ihnen bei raumgreifenden Kriegshandlungen nicht die Wiederherstellung ihrer Sicherheit, sondern eher die physische Vernichtung brächte. Für diese NATO-„Frontstaaten“ gilt eher mehr noch als für andere, daß ihre Sicherheit ein friedliches, besser noch freundschaftliches Verhältnis zu Rußland zur Voraussetzung hat. Und wie die erfreulichen Normalisierungsschritte zwischen Polen und Rußland seit Amtsantritt der Regierung von Donald Tusk in Warschau zeigen – Entspannung ist möglich, wenn beide Seiten daran interessiert sind, und umso eher, wenn andere NATO-Staaten solche Prozesse fördernd begleiten.
Die russische Initiative ist im Übrigen kein Ultimatum, sondern ein Angebot, über das geredet, das modifiziert, das verbessert werden kann – dies hat kein Geringerer als der Initiator der Initiative, der russische Präsident Dmitri Medwedjew, zum Ausdruck gebracht – zum Beispiel während einer Visite im März dieses Jahres in Paris. Doch wie heißt es so schön? The proof of the pudding is in the eating – oder mit den Worten des Chefs der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger: „Sich intensiv mit den Vorschlägen auseinanderzusetzen, bedeutet … nicht, die russische Initiative nicht kritisch zu hinterfragen. Manche Aspekte des vorliegenden Entwurfs verdienen Unterstützung. Andere hingegen sind inakzeptabel oder bedürfen umfassender Überarbeitung. Genau dies ist die Aufgabe von Gesprächen und Verhandlungen.“
Schlagwörter: Dimitri Medwedjew, NATO, Russland, Sergej Lawrow, Wolfgang Schwarz