von Heerke Hummel
In den Abgrund will Peer Steinbrück nach eigener Aussage (in der ARD am 4. August 2010) als Finanzminister der großen Koalition im Herbst 2008 nach Ausbruch der Finanzkrise geblickt haben. Angst für sich persönlich habe er nicht gehabt, als er mit der Bundeskanzlerin vor die Fernsehkamera trat, um das Wahlvolk mit dem Versprechen zu beruhigen, die Regierung werde die Sicherheit seiner Ersparnisse garantieren. Doch Bilder der Geschichte, wie Menschenmassen die Kassen der Banken leerfegten, um ihr Geld zu retten, seien ein Blick in den Abgrund gewesen. Nicht weniger auch der Gedanke an Tumulte, brennende Autos und Häuser, eben Geschehnisse wie dieses Jahr in Griechenland.
Macht und Ohnmacht eines Krisenmanagers, wie es im Untertitel des ARD-Films hieß ? Was hat Steinbrück zusammen mit Angela Merkel getan, um das befürchtete Chaos zu verhindern? Den Banken noch mehr Geld in den Rachen geworfen – auf Kosten des Steuerzahlers –, auf dass die Spekulation munter fortgesetzt werden kann, mit Kurs auf die nächste, noch gewaltigere Krise! „Glanzleistung“ eines diplomierten Volkswirts! Dazu passt die sogar jetzt noch ausgesprochene Rechtfertigung der Zulassung von Hedgefonds in Deutschland wenige Jahre vor Ausbruch der Krise. Dieser Schritt sei damals richtig gewesen, um den realwirtschaftlichen Riesen Deutschland endlich auch zu einer respektablen Macht auf den Finanzmärkten zu machen, so der Minister a.D. Das ist die (politische und geistige) Ohnmacht von Dienern der Finanzaristokratie, welche die Gesellschaft, die heute von und mit der Wissenschaft lebt, „nach der Methode Versuch und Irrtum“ (Wolfgang Schäuble im November 2008) leiten. Sie wurden und werden für ihre Aufgabe ausgebildet – von einer Wissenschaft, deren oberstes Tabu eine Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ist. Dass Steinbrück keine besseren Lehrer hatte, ist wohl nicht seine Schuld. Marx und Lenin standen gewiss nicht auf seinem Vorlesungsprogramm, wenngleich deren Werke auch nicht verboten waren. Und die sie lasen, ließen sich später großenteils einer Gehirnwäsche unterziehen – im ganzen linken Spektrum. Dogmatismus und Stalinismus waren die schlagenden Argumente. Aber verbietet denn gewesener Dogmatismus ein neues, eigenes Weiterdenken über die heutige bürgerliche Ordnung, über deren Herrschaft des Geldes vermittels ihres Parlamentarismus, hinaus? Und vor allem: Welche Ursachen ermöglichten, ja bedingten vielleicht sogar solch schlimme Erscheinungen und Geschehnisse in der östlichen Welt? Waren diese nicht zeitbedingt und eine Folge der spezifischen nationalen und internationalen Bedingungen? Diese beeinflussten das Denken von Männern wie Stalin und machten es ihnen leicht, an die Macht zu kommen und sich diese zu sichern. Bei der LINKEN wird darüber wohl wenig nachgedacht. Anders jedenfalls sind die zahlreichen Kniefälle und Treueschwüre auf die uns im Osten mit dem Grundgesetz der BRD übergeholfene Ordnung gerade von ehemaligen PDS-lern kaum zu verstehen, will man nicht bewusste Anpassung und Karrierismus unterstellen.
Bei Steinbrück dagegen scheint es noch (oder wieder?) ein gewisses Gespür für die Realitäten zu geben, die Fragen aufkommen lassen. Immerhin räumte er in der Fernsehdokumentation ein, es sei vielleicht noch nicht entschieden, welches Gesellschaftsmodell das effizientere, im Wettbewerb überlegene ist: das des Westens oder das östliche Chinas. Das ist bemerkenswert, auch wenn der prominente SPD-Mann weit davon entfernt ist, sein Herz für letzteres „Modell“ zu erwärmen, sich vielmehr damit begnügt, der deutschen (Finanz-)Elite vorzuwerfen, sie sei von der Realität abgehoben, werde ihrer politischen und moralischen Verantwortung nicht mehr gerecht und riskiere so ein Auseinanderfallen der Gesellschaft. In dieser Angst vor einer revolutionären Situation erschöpft sich sein Fühlen und Denken, wohl auch das der SPD im Großen und Ganzen. Dass sein Vorwurf ungerecht sein könnte, weil das Problem nicht in der Moral und im Verantwortungsbewusstsein von Personen, sondern im bestehenden politisch-ökonomischen System des Westens liegt, unter dem die Akteure gar nicht anders handeln können, kommt dem Kritiker nicht in den Sinn.
Und DIE LINKE? Sie scheint an die Möglichkeit einer revolutionären Situation gar nicht mehr zu denken – oder sich nicht zu getrauen, solches Denken öffentlich zu machen. Man könnte sie ja auf Verfassungsfeindlichkeit festnageln, wenigstens ihr die Regierungsfähigkeit mit einem weiteren Argument absprechen. Dabei dürfte doch feststehen: Ohne Verfassungsänderung (natürlich europaweit) werden die Gebrechen dieser Gesellschaft nicht zu beheben sein. Ohne eine rechtliche Neuordnung des Geld- und Finanzsystems durch eine Wirtschafts- und Finanzverfassung wird die politische Herrschaft der Finanzaristokratie nicht zu brechen, das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie, wie in China (und vielleicht auch anderswo) vorexerziert, nicht durchzusetzen sein. Und dazu bedarf es einer breiten Bereitschaft und Zustimmung im Volke. Es muss über die Notwendigkeit aufgeklärt und auf alle Eventualitäten vorbereitet werden. Doch beginnen muss das neue Denken bei der LINKEN bzw. bei allen gesellschaftskritischen Bewegungen selbst.
Revolutionen werden nicht herbeigeredet, sie ereignen sich nicht vorher bestimmbar spontan aus Krisensituationen heraus. Dann muss eine Partei, die den Anspruch erhebt, die Verhältnisse zu verändern, ein Programm haben, das sie befähigt, die Macht, die auf der Straße liegt, zu ergreifen und zu nutzen. Und sie muss dann eine bedeutende Mehrheit der Bevölkerung bereits von der Notwendigkeit der zu ergreifenden Maßnahmen überzeugt haben, damit diese zur zentralen Forderung der rebellierenden Massen selbst werden. Dann ist die Rebellion kein Abgrund, sondern die Chance für einen gesellschaftlichen Neubeginn.
Von Heerke Hummel erschien zuletzt: Gesellschaft im Irrgarten, NORA-Verlag, Berlin 2009
Schlagwörter: Finanzkrise, Heerke Hummel, Peer Steinbrück, Revolution