13. Jahrgang | Nummer 15 | 2. August 2010

Mit der Freiheit der Grobheit gegen „Windbeutel“

von Kai Agthe

Er wurde 1788 in Danzig geboren, ist in Hamburg aufgewachsen, in Gotha vom Gymnasium geflogen, schrieb seine Promotion in Rudolstadt, verkehrte dank seiner Mutter bei Goethe in Weimar und hat seinen Lebensabend bis zum Tod 1860 in dessen Geburtsstadt verbracht. In Frankfurt/Main galt der alte Philosoph samt Pudel als Original. Als Mensch und Denker war Schopenhauer, wie sein Biograf betont, „heftig, kompromisslos und sich über jeden sozialen Takt hinwegsetzend“: Gegenüber seiner Mutter Johanna (mit der er sich derart überwarf, daß sie ihn enterbte) ebenso wie gegen die deutsche Universitätsphilosophie, die er verabscheute. Schopenhauer legte niemals Wert darauf, sich beliebt zu machen. Er nahm sich, wie Robert Zimmer notiert, die „Freiheit zur Grobheit“. Daß er sich damit mehr Feinde als Freunde machte, störte ihn nicht. Diese Haltung konnte er sich auch dank eines väterlichen Erbes leisten. Schopenhauer hatte das Glück finanzieller Unabhängigkeit. Geld hatte er zur Genüge. Eine Heimat aber, so sagte er selbst, habe er nie besessen. Auch deshalb erklärt sein Biograf ihn zum „philosophischen Weltbürger“. Das hätte dem so Geehrten gewiß gefallen.
Otto A. Böhmer folgt in seinem jüngst bei C. H. Beck erschienenen Schopenhauer-Porträt dem Philosophen blind, wenn er kolportiert, dessen pessimistische Weltsicht begann, als er auf einer Europareise als 16-Jähriger in Toulon erstmals Galeerensklaven sah. Zimmer hingegen bezweifelt, daß diese „emotional einschneidende Erfahrung bereits so aufgeladen war, wie der spätere Schopenhauer behauptete“. Alles abwägend, ist Zimmer beizupflichten.
Das Feindbild Schopenhauers war klar konturiert: die universitäre Kathederphilosophie in Gestalt von Fichte, Hegel und Schelling. Ihnen warf er vor, ihre unklare, suggestive Sprache, sei, so Zimmer, „ein Symptom für unklares Denken“. Laut Schopenhauer läßt sich alles Komplizierte einfach sagen. Und so überzog er, den es zeitlebens schmerzte, daß er, wiewohl habilitiert, nie an einer Universität reüssieren konnte, die Kollegen mit Spott und Häme. Besonders auf Hegel hatte sich Schopenhauer eingeschossen. Ihn nannte er einen „Unsinnsschmierer“, „Windbeutel“ und „Scharlatan“ der „Altenweiberphilosophie“. Richtig ist: Hegels Sprache ist dunkel und verstiegen und selbst für ältere Semester nur mühsam zu enträtseln. Die Schopenhauers dagegen ist klar, prägnant, verständlich. Das gilt für „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1819) wie für das Spätwerk „Parerga und Paralipomena“ (1851). Man muß nicht die Metaphysik des 19. Jahrhunderts studieren, um sein Werk zu verstehen. Und wäre Schopenhauer ein Zeitgenosse, er hätte sich über Heidegger ähnlich geäußert wie über Hegel.
Bei aller Frische der Darstellung überrascht das antiquierte Bild, daß der Autor von Adele Schopenhauer, der Schwester des Philosophen, zeichnet. Er bezeichnet sie als „alte Jungfer“, wohl unwissend, daß es ihr nicht möglich war, ihre homosexuelle Orientierung zu leben. Über Adele und ihr ungelebtes Leben hat jüngst Angela Steidele ein eindrucksvolles Porträt vorgelegt, das für künftige Biografen ihres Bruders eine schlicht unverzichtbare Studie ist.
Schopenhauer-Jünger gab es viele. Einer von ihnen hieß Friedrich Nietzsche. Ihm waren die Fußstapfen des Älteren nicht zu groß. Robert Zimmer nennt Nietzsche und andere von ihm inspirierte Vertreter des Irrationalismus „illegitime Kinder, die Schopenhauer nie anerkannt hätte“. Diese Invektive hätte wohl kaum jemanden mehr geschmerzt als Nietzsche, der sich als konsequenter Fortsetzer von Schopenhauers Denken verstand. Nur zu gern hätte man erfahren, worauf sich Robert Zimmer bei seinem Urteil stützt. Allein Nietzsches „Wille zur Macht“ wäre ohne den „Willen zum Leben“ seines Vorbildes Schopenhauer kaum denkbar.
Es ist übrigens eine Mär, Arthur Schopenhauer sei aus Überzeugung ein Einzelgänger und Hagestolz gewesen. Zimmer zitiert aus einem späten Manuskript den traurigen Hinweis: „Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich schrecklich einsam gefühlt und stets aus tiefster Brust geseufzt: Jetzt gib mir einen Menschen! Vergebens. Ich bin immer einsam geblieben.“
Robert Zimmers Buch ist eine sehr erhellende Biografie, die das erfüllt, was Schopenhauer von aller Literatur verlangt hat: mit gewöhnlichen Worten ungewöhnliche Dinge zu sagen.

Robert Zimmer: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010. 298 Seiten, 14,90 Euro. Ebenfalls empfehlenswert: Otto A. Böhmer: Schopenhauer oder Die Erfindung der Altersweisheit. C. H. Beck, München 2010. 159 Seiten, 10,95 Euro