Über den vollendeten Dichter Peter Hacks
von Wiglaf Droste
Zwei große steinerne Jugendstilengel bewachen den Eingang zum Kirchhof der Französischen Gemeinde zu Berlin in der Liesenstraße in Mitte. Viele Kirchenmänner sind hier begraben; einer hat sich ein optimistisches „Ich lebe“ in den Grabstein hauen lassen, ein anderer firmiert postum als „Botschafter der Liebe Gottes“. Auch Theodor Fontane ist hier bestattet – und Peter Hacks, der Dichter, der am 28. August 2003 starb, an Goethes 254stem Geburtstag. Wer Hacks näher kannte, will an einen Zufall nicht glauben. Der schwerkranke Hacks stemmte sich dem Tod gezielt bis zum Geburtstag seines Idols Goethe entgegen.
Sein größter Erfolg auf dem Theater war das Stück „Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe“. Man erfährt darin alles Notwendige über unverbindliche Männer und ihr Verhältnis zu Frauen: „Die Junggesellen wollen uns weismachen, sie mieden die Anstrengungen der Ehe, weil sie für die Liebe geboren seien. Was sie in Wahrheit meiden, sind die Anstrengungen der Liebe.“
Am 21. März 1928 in Breslau geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, studierte Hacks in München. Im Nachlass findet sich auch ein kurzer Briefwechsel zwischen dem jungen Hacks und Bertolt Brecht. Am 30. Oktober 1951 schrieb der 23jährige Hacks einen Brief an den weltberühmten Dramatiker und damaligen Intendanten des Berliner Ensembles in Ostberlin. Hacks ist nicht bange vor dem großen Namen: „Ich habe im Frühjahr in Soziologie, Philosophie, Theater und Literaturwissenschaft promoviert und lebe seither vom Verfassen von Singspielchen und Liedergeschichten für den bayerischen Kinderfunk, als welcher eines der freisinnigsten Kulturinstitute Münchens ist. Freilich ist das alles, milde gesagt, unbefriedigend; (…) Ergo laborieren wir, wie alle marxistischen Intellektuellen ohnehin, an dem Problem, in die Ostzone zu gehen, und natürlich können wir uns, ohne Möglichkeiten, die Sache selbst zu übersehen, nicht recht entschließen. Mögen Sie uns nicht raten? Mit der Arroganz des Bewunderers erlaube ich mir auch, Ihnen ein paar Chansons und eine Geschichte von mir mitzusenden, damit Sie vielleicht so etwas wie ein Bild von mir bekämen.“
Der Brief schließt mit der Formel „Ihr beständiger Diener“. Brecht antwortet am 15. Januar 1952: „Lieber Herr Dr. Hacks, ich wünsche, daß Sie niemals in die fürchterliche Situation kommen, wo Sie um Rat gebeten werden. Wenn ja, hoffe ich, daß Sie ihr besser gewachsen sein werden als ich es bin. Gute Leute sind überall gut (und können überall besser werden). Ihre Gedichte hiesigen Zeitungen anzubieten, zögere ich ein wenig: Sie mögen, wo Sie jetzt sind, keinen Nutzen davon haben, wenn sie hier erscheinen.“ Hacks fühlt sich von Brecht keineswegs gedämpft. Am 1. Februar 1952 schreibt er retour: „Sehr verehrter Herr Brecht, ohne Ihnen damit eine größere Zeit Ihrer Muße rauben zu wollen, muss ich Ihnen schreiben, wie dankbar und freudig betroffen ich über die Einfachheit und Deutlichkeit Ihres Rates war, Ich glaube nicht, daß die Ereignisse mir gestatten werden, ihn zu befolgen. Aber es ist immer ein Unterschied, ob man, wenn man über den Bodensee reitet, eine Laterne bei sich führt oder nicht. Ich versichere Ihnen, daß Ihr Brief in ganz ausnehmendem Maße dazu geholfen hat, meine Vorurteile zu lockern und meine Kenntnis von der Welt zu befestigen, und ich habe Ihnen mehr zu danken als eine Auskunft in einer Frage – auch wenn man diese mit Recht als die wichtigste unter den stellbaren bezeichnen muss.“ Hacks schließt „mit dem Ausdruck jeder möglichen Verbundenheit“ – und schickt ein Postscriptum hinterher: „Meine mitgesandten Manuskripte haben Sie nicht eigens erwähnt. Wenn das auch ein Rat war, werde ich ihn auch nicht befolgen.“
So geschieht es: Hacks tut, was uns viele Jahre später drohend nahegelegt wurde, wenn wir es ablehnten, den Konsumismus der Bundesrepublik und der westlichen Welt für das Maß aller Dinge zu halten: Er geht nach drüben. 1955, von Heinar Kipphardt gerufen, verlässt Hacks München und die Bundesrepublik und wird Theaterdichter, am Deutschen Theater in Ostberlin.
Die DDR ist ab nun sein Land, das er „die Heimat aller deutschen Schriftsteller“ nennt. Diejenigen Kollegen aus dem Westen, die ihm etwas gelten, ruft er beharrlich dazu auf, in die DDR zu kommen.
Obwohl Heinar Kipphardt die DDR 1959 entnervt verlässt, unter anderem, weil er als Dramaturg ständige staatliche Drangsal um die Stücke seines Autors Peter Hacks auszustehen hat, harrt Hacks aus. Sein Stück „Die Sorgen und die Macht“ wird abgesetzt, Hacks bleibt – und streitet sich. „Einem Menschen mit Humor / Kommt das Leben komisch vor“, heißt es in „Plagejahre“, einem Gedicht, in dem Hacks zuvor anklagt: „Dämel druckt, ich bin verboten. / Was zum Kuckuck zügelt ihr, / Kampfgenossen, meinen Roten / Pegasus, mein Flügeltier?“ So sprach Hacks in der DDR zu den Kulturfunktionären, die ihn zensierten.
Sein Land aber geht auf den Bitterfelder Holzweg und fordert die Schriftsteller auf, sogenannte Arbeiterliteratur zu verfassen. Heiner Müller klöddert „Traktor“ zusammen, Hacks dichtet „Kartoffelfrauen“:
Der Dichter hat sich früh erhoben.
Er will in einer kleinen Schrift
Das Glück des Sozialismus loben,
Das viele, doch kaum ihn, betrifft.
Da sieht er unterm Morgengrauen
Im Herbstfeld die Kartoffelfrauen.
Sie rutschen fröstelnd auf dem Bauch.
Er blickt sie an und seufzt: Ihr auch?
Auf einem Schriftstellerkongress 1961 in Hamburg erklärt Hacks seinem Kollegen Hans Magnus Enzensberger: „Wir haben halt einen Sozialismus. Sie haben einen Kapitalismus. Beide haben ihre Nachteile. Ich würde sagen, unser Sozialismus ist zu vergleichen einem sauren Apfel und Ihrer einem etwas verfaulten.“ Zumindest mit seiner Analyse der Westzone lag Hacks überhaupt nicht falsch. Über Enzensberger schrieb Hacks später in einem Essai: „Ich wollte, er hätte seine Bombe geschmissen und uns von da an mit sich verschont. Jetzt sitzt er, eine greise 5-Mark-Hure des Imperialismus, und zeigt, wie wenn er welche hätte, seine Reize.“
Ende 1976, nach der Einweisung Wolf Biermanns in die Bundesrepublik, publiziert Hacks in der DDR-Weltbühne eine Analyse der Künste Biermanns: „Als ein fehlerhafter Ehrgeiz ihn trieb, sich an Heines Philosophie und Villons Weltgeist zu messen, als er sich von den Alltagssachen weg und den Weltsachen zuwandte, verstieß er gegen die seiner Begabung angemessene Gattung und sank vom Volkssänger zum Kabarettisten.“ Im Westen brauchten sie ein paar Jahrzehnte länger, um das Offensichtliche zu erkennen, und beim Spiegel und bei Springers Welt haben sie es bis heute nicht begriffen.
“Ich möchte nicht als Antidemokrat erscheinen, als der ich zu Recht verrufen bin“, schrieb Hacks in seinen „Maßgaben der Kunst“. Ebenso maliziös bedichtete er das fiktive Ende des dissidierenden 1989er-Ostklüngels:
Böhme, Thierse, Schnur und Stolpe,
Gysi, Modrow, Wolf und dann
Poppe, Barbe, Klier und Bohley,
Schröder, Ull- und Eppelmann,
Die Gebrüder Brie und, ärger,
Eheleute Wollenberger,
Alle lassen ihren Kopf
Fallen in den Auffangtopf.
Mit solch verantwortungslos fröhlichen, unbekümmerten Versen lehrt uns Hacks: Es gibt kein Recht auf Heiterkeitsverzicht. Mit den Plagen der Welt soll man federleicht und reizend fertig werden, stilsicher, charmant und mit den vollkommensten Manieren: je boshafter die Sottise, desto höflicher der Ton. Distanziertheit ist der Schlüssel.
Auf das distanzlose Moral-statt-Verstand-Spektakel und den Predigtdienst der deutschen Massenmedien nach den Anschlägen vom 11. September 2001 reagierte Hacks komödiantisch. In einem Band mit Anekdoten über Hacks, die er selbst verfasst hatte und den er kurz vor seinem Tod veröffentlichen ließ, findet sich auch diese Geschichte: „Nach dem Anschlag auf die beiden Hochhäuser auf der Insel Manhattan, welche als die ‚Welthandelmitte‘ bekannt waren, fragte Hacks bei dem in Lebensdingen beholfeneren Klaus Steiniger an, ob der sich in der Lage sehe, ihm zu der Postanschrift des Diplomingenieurs Osama Bin Laden zu verhelfen. Er habe, schrieb er zur Erklärung, einiges Dringende zur Neugestaltung des Potsdamer Platzes mit demselben zu besprechen.“
Die Kühle, den Elftenseptember auch als Geburtsstunde der bemannten fliegenden Architekturkritik zu betrachten, hatten und haben nicht viele. Der Klassiker Hacks war auch in diesem Punkt unendlich viel unsentimentaler, als jede Popkultur es erlauben könnte. In seinem Testament verfügte er, nicht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt werden zu wollen, auf dem bereits Heiner Müller lag – über den Hacks schrieb: „Darauf, einem Konkurrenten ein Geschäft zu verderben, einem Kollegen die Ehre abzuschneiden, einem Kommunisten die Gurgel umzudrehen, auf diese drei Aufgaben werden Sie Heiner Müller vorbereitet finden, wann immer sich ihm eine Gelegenheit bietet, es gefahrlos zu tun, an jedem einzelnen Tag und zu jeder einzelnen Stunde.“ Neben dieser Müllermilch mochte Hacks nicht liegen. „Mit Heiner Müller“, schrieb Hacks, entzückend boshaft bis zuletzt, habe er „sich nicht soviel zu sagen, daß es für eine Ewigkeit reicht“.
Wenige Tage vor Hacks‘ Tod Ende August 2003 druckte das ‚Spiegel‘-Feuilleton Texte aus „Letzte Tänze“ von Günter Grass vorab, die fälschlich als Gedichte ausgegeben wurden, doppelt falsch sogar als erotische Gedichte. Eins der Teile heißt „Ein Wunder“ und geht ungekürzt so:
Soeben noch schlaff und abgenutzt
Nach soviel Jahren Gebrauch,
Steht Er
– Was Wunder!
Er steht –,
Will von dir, mir und dir bestaunt sein,
Verlästert und nützlich zugleich
Früher traf Günter Grass den Free Jazz-Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer; Grass las, Sommer klapperte. Das war schon scheußlich genug, aber verglichen mit dem halbsteifen Gipfeltreffen zwischen Grass und seinem Schwanz doch eine erfreuliche Begegnung. Grass aber, von Greisengeilheit ganz aus dem Häuschen getrieben, legte das Rohr noch weiter vor. Ein besonders krudes Gestammel trägt den Titel „Schamlos“ – es ist hier, wiederum ungekürzt, zitiert:
Wie Tiere
Leckten wir uns
Und fanden später –
Mit selbiger Zunge
Zivil geordnete Wörter,
Einander die Welt zu erklären:
Den Anstieg der Benzinpreise,
Die Mängel im Rentensystem,
Das Unbegreifliche
Der letzten Beethoven-Quartette.
Das schreibt sich Günter Grass alles ganz allein. Grass, das ist Literatur als Strafe, als Rache an einer Schönheit der Welt, an der er nicht teilhat – Altpapier schon vor dem Druck. Wie kann man über etwas so Schönes so eklig schreiben? Wo Günter Grass für einen Dichter gilt / Da liest man Spiegel FAZ, ND und Bild.
Am selben Tag, an dem die FAZ Peter Hacks in ihrem Nachruf auf ihn als „Dichterfürsten“ und als „Marxisten von Sanssouci“ feierte, schrieb Marcel Reich-Ranicki im selben Blatt: „Er ist der Dichter unserer Generation“ – allerdings schrieb Reich-Ranicki das über Grass. Hätte es noch eines letzten Beweises bedurft dafür, daß Reich-Ranicki sich für nichts weniger interessiert als für Literatur und daß er von nichts weniger versteht als eben genau davon, seine Eselei über Grass wäre dieser Beweis gewesen. Er empfinde „Dankbarkeit für die Gedichte von Günter Grass“, beteuerte Reich-Ranicki, von dem der altersmeise Eröffnungssatz seiner Rezension bleiben wird: „Wir sind mit ihm alt geworden, wir sind mit ihm junge geblieben.“ Wenn einer sich mit – damals – 83 Jahren das Seniorenbeschwichtigungslätzchen „jung geblieben“ umbindet, dann ist das unzweifelhaft das Ende. Dann ist im Kopfe Schlussi / Wir gratulieren: Bussi!
Dem armseligen, gestümperten und am Ende noch mit Bildung und Beethoven hubernden Rentensystems- und Benzinpreis-Geknötter von Grass sei ein Liebesgedicht von Hacks gegenübergestellt – „Die Welt, schon recht“:
Die Welt? Schon recht. Doch wenn dein Fleisch sich straffte,
Wenn anhebt, daß du schön und schöner wirst,
Wenn deine Schönheit sich ins Engelhafte
Verklärt und dann in einem Aufschrei birst,
Und alles Fühlbare in diesem Schrei ist,
Mit dem du aller Wirrsal dich entwirrst
Zu tiefem Ausruhn, und dann nichts vorbei ist,
Die Wirkung nicht des Glücks, unscheidbar in
Dein oder meins, weil zwei schon nicht mehr zwei ist:
Dann erst in Wahrheit schwindet Zweifel hin.
Die Welt, schon recht. Ich liebe, und ich bin.
Wer Hacks mit Verstand liest, ist für die Stupidität und Hässlichkeit der Welt verloren. Und begreift, daß man einen brillant formulierten Gedanken nicht notwendigerweise teilen muss, um sich an seiner Schönheit erfreuen zu können.
Hacks‘ Grab auf dem Französischen Friedhof in Berlin-Mitte ist schlicht gehalten. Nur sein Name und die Jahreszahlen 1928 – 2003 stehen auf dem Stein aus poliertem Granit. Als ich das Grab besuchte, lag drei Meter weiter, zwischen zwei Lebensbäume ins hohe Gras gekuschelt, ein dicker schwarz-weißer Kater, gähnte, schnurrte, erhob sich, wollte gestreichelt werden, wurde also gestreichelt und räkelte sich wonnig. Es gefiel mir, Peter Hacks in so guter Gesellschaft anzutreffen.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.
(Erstmals publiziert wurde dieser Nekrolog in einer etwas anderen Fassung in Peter Hacks, Hundert Gedichte, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2004, und zu hören – gelesen von Wiglaf Droste höchstselbst – ist der Text in einer wiederum etwas anderen Variante auf der CD JAZZ, LYRIK, PROSA – Hacks’ Fülle des Lebens, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2009.)
Schlagwörter: Bertolt Brecht, Goethe, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Heiner Müller, Marcel Reich-Ranicki, Peter Hacks, Wiglaf Droste, Wolf Biermann