von Mario Keßler
Vor dreißig Jahren, am 20. Juli 1980, starb in Berlin der 1904 geborene Historiker Arnold Reisberg. Kaum ein anderer seiner Fachkollegen hat einen vergleichbaren Lebenslauf. Geboren im galizischen Boryslaw, floh die jüdische Familie (Reisbergs Vater war Volksschullehrer) vor den russischen Truppen im Ersten Weltkrieg nach Wien. Dort war Reisberg zwar vor Pogromen sicher, nicht aber vor dem Antisemitismus seiner Mitschüler – auch nicht nach der Konversion zum Katholizismus. Diese Erlebnisse und der Eindruck der russischen Revolution führten ihn an die Seite der radikalen Linken. 1924 trat er schließlich der kommunistischen Partei bei.
Im gleichen Jahr nahm er sein Geschichtsstudium an der Universität Wien auf, das er 1928 mit der Promotion zum Thema „Der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840–1848“ bei Alfons Dopsch und Heinrich von Srbik abschloss. Als Kommunist hatte er Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, und so musste er sich als Hauslehrer durchschlagen, bevor er 1931 bei der Partei eine Anstellung fand.
Nach den Februarkämpfen 1934, die zur Zerschlagung der österreichischen Arbeiterbewegung führten, musste Reisberg emigrieren und ging in die Sowjetunion. Seine Hoffnung, dort Sicherheit zu finden, erfüllte sich jedoch nicht.
Im Frühjahr 1937 geriet Reisberg, der an der Lenin-Schule der Komintern unterrichtete, in den Malstrom der Stalinschen “Säuberungen”, wurde verhaftet, trotzkistischer Tendenzen, des denkbar schwersten aller Verbrechen, beschuldigt und zu fünfjähriger Lagerhaft verurteilt, die er in Kolyma im Fernen Osten verbüßen musste. Nach Ablauf seiner Haftstrafe kam er nicht frei, sondern wurde weitere viereinhalb Jahre ohne Begründung eingesperrt gehalten. Erst Ende 1946 kam er in Moskau wieder mit seiner Frau und dem überlebenden seiner beiden Söhne zusammen.
Im April 1949 wurde er erneut verhaftet. Ihm wurde unterstellt, während seiner früheren Haftzeit gegen Bestimmungen des Strafgesetzbuches verstoßen zu haben. Diesmal wurde er zu lebenslänglicher Verbannung nach Ostsibirien verurteilt. Seine Familie folgte ihm zwei Jahre später dorthin.
Im Juni 1954 kam Reisberg endlich frei. Er durfte als Deutschlehrer in der Nähe von Kaluga arbeiten. Ihm wurde jedoch untersagt, über seine Lagerhaft zu sprechen. Erst im Februar 1959 konnte er, der noch sowjetischer Staatsbürger war, die UdSSR verlassen und ging in die DDR, deren Stellen sich für seine Ausreise eingesetzt hatten.
Dort erhielt er eine Anstellung, dann eine Professur am Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Im Alter von 55 Jahren konnte er sich der wissenschaftlichen Arbeit zuwenden. In gerade zwei Jahrzehnten entstand ein quantitativ beeindruckendes Werk: neun Bücher mit zum Teil mehreren Bänden und zahlreiche Aufsätze – insgesamt über viertausend Druckseiten! Das große Thema seines Lebens wurden die Beziehungen zwischen der deutschen und der sowjetischen kommunistischen Bewegung, doch schrieb er auch eine Darstellung der österreichischen Februarkämpfe von 1934. Sein Hauptwerk “An den Quellen der Einheitsfrontpolitik”, das die Geschichte der KPD bis 1921 behandelt, kann – trotz mancher Vorbehalte – als seriöse Darstellung des Themas gelten. Seine Quellensammlung “Lenin – Dokumente seines Lebens” suchte den Sowjetführer als Politiker und fehlbaren Menschen zu zeigen, nicht als Ikone.
Reisbergs Werk fasziniert und hinterlässt zugleich einen beklemmenden Eindruck. Auf der einen Seite bestechen seine Arbeiten durch Detailtreue, auch durch vorbehaltloses Verweisen auf die Leistungen der von Stalin ermordeten Kommunisten. Andererseits zog Reisberg die Politik der Partei an keiner Stelle jemals in Zweifel. Mehr noch: Er wandte sich vehement gegen Versuche österreichischer Forscher, auch von Stalin-Opfern, Licht in das Dunkel der Stalinschen Verbrechen zu werfen, sobald sein Name ins Spiel geriet und geraten musste. Reisbergs Glaube, der sowjetische Sozialismus könne das Stalinsche Erbe überwinden, ohne dessen Ursachen zu erforschen, erwies sich ein Jahrzehnt nach seinem Tod indes als Illusion.
Schlagwörter: Arnold Reisberg, Mario Keßler, Stalinismus