13. Jahrgang | Nummer 12 | 21. Juni 2010

Hitlers Olympia und die vergessenen Rekorde

von Mario Keßler

Der amerikanische Historiker David Clay Large, Professor an der Montana State University in Billings, hat mit „Nazi Games. The Olympics of 1936“ das wohl bisher beste Buch zum Thema vorgelegt. Die Schilderung reicht von der Politisierung der Olympischen Spiele der Neuzeit seit Athen 1896 über die Organisierung der 1936er Olympiade in Deutschland, die internationale und besonders die amerikanische Boykottbewegung angesichts des Ausschlusses jüdischer Athleten aus der deutschen Olympiamannschaft nach den Nürnberger „Rassengesetzen“ bis hin zur Analyse der nazifreundlichen Haltung des amerikanischen NOK-Präsidenten Avery Brundage, wofür zahlreiche neue Belege erbracht werden. Die Nazi-Sportführung ließ schließlich zwei sogenannte „Halbjuden“ in ihren Mannschaften starten: den Eishockeyspieler Rudi Ball und die Fechterin Helene Mayer, ein Sportidol jener Zeit. Auch der Chef des Organisationskomitees der Berliner Spiele, Theodor Lewald, war nach Nazi-Kriterien ein „Halbjude“ (der glücklicherweise die Verfolgung überlebte; er starb 1947).
Selten zuvor ist das Zusammenspiel von Sport, Sportpolitik und Propaganda so detailliert und übersichtlich gezeigt worden wie in diesem Buch. Die schwarzen US-Sportler, unter ihnen der vierfache Olympiasieger Jesse Owens und sein Rivale, der spätere Bürgerrechtler und Politiker Ralph Metcalfe, durften im Olympischen Dorf mit ihren weißen Sportskollegen an einem Tisch essen, was ihnen in vielen Staaten der USA untersagt war. Large zitiert einen deutschen Kommentator, der das Weitsprungduell zwischen Jesse Owens und dem Leipziger Lutz Long wie folgt sah: „An der Person des nordischen Typus erkennen wir den wohldurchdachten Sprungstil, eine systematische Konzentration auf die Außenlinie des Absprungbalkens, eine Dehnung des ganzen Körpers, um ein noch besseres Ergebnis zu erreichen. Beim Neger sehen wir das unsystematische Hochschnellen des Körpers, fast wie beim eleganten und leichtfüßigen Sprung eines Tieres in der Wildnis.“ Lutz Long, der Owens im Wettkampf knapp unterlag und die Silbermedaille gewann, scherte sich nicht um solch rassistisches Gefasel; ein Foto zeigt ihn, im Gras des Stadions liegend, im intensiven Gespräch mit Owens, obgleich die deutsche Sportführung eine solche Geste nicht gern sah. 1939 mußte der Nicht-Nazi Long für „Führer“, Volk und Vaterland in den Krieg ziehen, aus dem er nicht zurückkehrte.
Ein Kabinettstückchen des Kulturhistorikers Large ist seine Interpretation der Symbolik, derer sich die Nazis bei der Inszenierung der Eröffnungs- und der Schlußfeier der Berliner Spiele bedienten, wie auch des Riefenstahl´schen Propagandafilms, der nicht, wie Riefenstahls Bewunderer später oft und gern behaupteten, ein Auftrag des IOC, sondern einer des Reichspropagandaministeriums war. Der internationale Sport, dies ist das Hauptargument des Autors, war niemals unpolitisch, wie die IOC-Oberen demagogisch erklärten, sondern eine Politik mit spezifischen Mitteln. Hierzu gehörte das systematische Herunterspielen der Diskriminierung von Juden in Deutschland durch IOC-Mitglieder: Neben Brundage tat sich dabei auch der schwedische IOC-Vizepräsident Sigfrid Edström hervor. Er, wie auch das deutsche IOC-Mitglied Karl Ritter von Halt, Direktor der Deutschen Bank und Edelnazi, gehörte als Vorstandsvorsitzender des Elektrokonzerns ASEA (heute ABB) zu den herrschenden Kreisen seines Landes. Damals trat das Zusammenspiel zwischen Sportpolitik und allgemein nazifreundlicher Politik hervor, die direkte Indienstnahme des Sports für kommerzielle Interessen lag hingegen noch in der Zukunft.
Im Sport waren bis 1933 die Juden so selbstverständlich in die deutsche Gesellschaft integriert gewesen wie sonst in kaum einem anderen Gebiet. Doch die meisten deutschen Sportvereine begrüßten Hitlers Machtantritt enthusiastisch oder ließen sich zumindest willig gleichschalten. Schon im Sommer 1933 mußte die Hochspringerin Gretel Bergmann (geb. 1914) erfahren, daß bisherige „Freunde“ sie nicht mehr auf der Straße grüßten. Sie ging zunächst nach England, wurde dort aber nicht eingebürgert. Angesichts des drohenden Olympiaboykotts durch die USA nominierte die deutsche Sportführung dann Gretel Bergmann als „Alibijüdin“ für die Olympiamannschaft. Doch zwei Wochen vor Beginn der Spiele wurde die deutsche Rekordhalterin aus der Mannschaft gestrichen. Noch 1937 emigrierte sie in die USA, wo sie heute unter dem Namen Margaret Lambert lebt. Sie konnte ihre sportliche Laufbahn in Amerika zwar erfolgreich fortsetzen, doch die Olympischen Spiele 1940 und 1944, für die sie noch eine Medaillenkandidatin gewesen wäre, fielen dem von Nazideutschland angezettelten Krieg zum Opfer. Erwähnenswert ist, daß die Hochsprung-Olympiasiegerin der Berliner Spiele, die Ungarin Ibolya Csák, ebenfalls Jüdin war.
Anders als Gretel Bergmann verließ Lili Henoch (1899-1942) ihre Heimat nicht. Die sportlich vielseitige junge Frau errang nach dem Ersten Weltkrieg elf deutsche Meistertitel im Sprint und im Weitsprung, aber auch im Kugelstoßen und Diskuswerfen. Nach dem Ende ihrer aktiven Laufbahn als Sportlehrerin tätig, konnte sie ab 1933 nur noch in den – stets diskriminierten und vom übrigen deutschen Sport völlig ausgegrenzten – jüdischen Vereinen arbeiten. 1942 wurde sie deportiert und im Ghetto von Riga ermordet.
Martha Jacob (1911-1976) war Mitglied einer Gymnastikgruppe, die im (nicht zum Wettkampf zählenden) Rahmenprogramm der Olympischen Spiele 1928 in Amsterdam auftrat. Ihre Spezialdisziplin war jedoch der Speerwurf. 1929 wurde sie deutsche Meisterin und war im gleichen Jahr Mitglied der Frauen-Nationalmannschaft beim Leichathletik-Länderkampf gegen Großbritannien. Im April 1936 gelang ihr die Emigration nach Südafrika.
Der gut bebilderte Katalog und die darin versammelten Beiträge dokumentieren den Willen jüdischer Sportlerinnen und Sportler zur Selbstorganisation nach 1933. Unter materiell immer schwierigeren Umständen betätigten sie sich in den schrumpfenden jüdischen Sportvereinen weiter, solange es noch ging. 1937-38 wurde diesen Vereinen die letzte Existenzgrundlage genommen – und nach 1945 wurde die Erinnerung an sie in beiden deutschen Staaten lange dem Vergessen anheim gegeben.

David Clay Large, Nazi Games. The Olympics of 1936, New York/London: W. W. Norton, 2007, 401 Seiten, 21,99 Euro; Berno Bahro/Jutta Braun/Hans-Joachim Teichler (Hg.), Vergessene Rekorde. Jüdische Athletinnen vor und nach 1933, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg, 2009, 208 Seiten, 16,90 Euro