von Hajo Jasper
Eine Wohlfühlgesellschaft für jedermann ist der Kapitalismus nie gewesen; wie es ein solches Gemeinwesen bislang überhaupt nur in den Phantasien entweder vom jenseitigen Paradies oder dem irdisch für die Werktätigen geplanten existiert.
Für die entwickelten kapitalistischen Staaten, zumal Deutschland, kann mindestens für die Nachkriegszeit aber denn doch konstatiert werden, daß sich ein ziemlich breites Einverständnis mit jener sozialökonomischen Grundstruktur entwickelt hatte, auf der die bundesdeutsche Gesellschaft immerhin jahrzehntelang funktionierte.
Immerhin waren Rechtstaatlichkeit im Zusammenspiel mit der Sozialbindung der Kapitalkräfte kein schlechter Kitt für den stabilen Zusammenhalt der Gesellschaft – wie gesagt, die Rede ist vornehmlich von „diesem unseren Land“. Und die Systemkonkurrenz mit dem Realsozialismus, im Praktischen zwar meist unterlegen, in der sozialen Werteorientierung aber allweil gefährlich für den systemischen Widerpart, tat ein Übriges, um die politische wie wirtschaftliche Macht gerade auf diesem Sektor zu beachtlichen Zugeständnissen zu nötigen.
Daß gerade letzteres von vielen Westdeutschen über die Jahre fälschlicherweise als wesenshafte Normalität der Marktwirtschaft empfunden worden ist, hat sich spätestens erwiesen, seit die letztgenannte Schranke für die Profitmaximierung entfallen ist und der nunmehr globalisierte Konkurrenzkampf zurück zu Hemmungslosigkeiten un-seligen Manchesterandenkens führt.
Daß seitens diverser Linker in Anbetracht der sich derzeit häufenden und wahrhaft substantiellen Krisen wieder einmal das Totengeläut des Kapitalismus zum Klingen gebracht bringt, ist bei der Betrachtung der Lage weniger interessant. Nach dieser Denkart ist es bereits seit 100 Jahren fünf vor Zwölf, was ja auch sein mag – nur, daß der große Zeiger so gar nicht recht weitergerückt ist, um die fehlenden fünf Minuten bis zur finalen Umkehr zu überbrücken.
Sicher, eine Gesellschaft, die nicht auf dem Kapitalverhältnis beruht ist wünschenswert – wer wollte dies in Anbetracht gerade derzeitiger dramatischer und mit noch ungeahnten Folgen verbundenen Turbulenzen bestreiten. Doch, auf Sankt Nimmerlein zu warten oder ihn immerfort herbeizuwünschen oder zu -reden, ist halt eine wenig fruchtbare Position.
Wolfgang Englers Denken ist anderer Natur: Wie bereits in mehreren und vielbeachteten Büchern und Studien höchst anregend wahrzunehmen, orientiert sich seine Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen an jenem „Denken ohne Geländer“, das Hannah Arendt als erstrebenswerte und letztlich produktivste Freiheit bezeichnet, in der sich ein Mensch geistig bewegt.
Und so geht es bei dem hier empfohlenen Buch auch nicht vorrangig um heutige Krisen, wiewohl man Essays unter dem Titel „Lüge als Prinzip – Aufrichtigkeit im Kapitalismus“, auch unter einzig aktuellen Aspekten natürlich bündeln könnte. Englers Studie zeichnet vielmehr einen Teil jener Textur der Wesensveränderung der bürgerlichen Kultur und damit der kapitalistischen Gesellschaft nach, die sich um die Ethik der Aufrichtigkeit und des Vertrauens als unverzichtbare Grundlagen abhängig-menschlichen Zusammenlebens seit der Französischen Revolution vollzogen haben und die Eigennutz und Selbstsucht immer mehr zum gesellschaftlich kontraproduktiven Primat individuellen Denkens und Handelns und somit die Lüge zum Erfolgsprinzip erhoben haben
Wie er das macht, ist neuerlich höchst anregend zumindest für alle, die kein neues Standardwerk erhoffen, mit dessen Zitaten als Fertigprodukt man dann hantieren kann wie mit anderen „Gebrauchsgegenständigen des täglichen Bedarfs“. Und eben – Engler beschwört auch nicht die Zeiger jener Uhr, die da auf den besagten fünf Minuten vor Ultimo stehen.
Sein Fazit: Nur wenn es dem Kapitalismus gelingt, zu seinen eigenen sozialmoralischen Wurzeln zurückzukehren und das verlogene und nur auf den eigenen kurzfristigen Vorteil bedachte Handeln durch ein aufrichtiges und auch den Nächsten als Menschen und bedürftiges Individuum wahrnehmendes Verhalten zu ersetzen, wird unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem politisch mehrheits- und eben überlebensfähig sein.
Ob das machbar sein wird, vermag auch Wolfgang Engler nicht zu sagen, Bescheidwisserei würde zu seiner Denkungsart auch nicht passen wollen. Bevor die Welt sich aber aufs Neue in eine sozialistische Sturzgeburt begibt, zu der die sozialökonomischen Grundlagen noch immer nicht letztverbindlich vorhanden sind, ist sein Resümee zumindest aber eine bedenkenswerte Hoffnung – und die stirbt, wie man weiß, zuletzt.
Wolfgang Engler, „Lüge als Prinzip – Aufrichtigkeit im Kapitalismus“, Aufbau 2009, 19,95 Euro
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