13. Jahrgang | Nummer 11 | 7. Juni 2010

Bundespräsidiales

von Erhard Crome

Plötzlich und unerwartet ist der Bundesrepublik Deutschland der Präsident abhanden gekommen. Bisher war das für Politikwissenschaftsstudenten oder Zeithistoriker sehr einfach (im Unterschied zu den Amtsperioden der Kanzler): 1949 wurde Thedor Heuss als erster Bundespräsident gewählt, 1959 Heinrich Lübke, und dann immer fünf oder zehn Jahre später ein anderer; jeder hatte ein oder zwei Wahlperioden ausgesessen, mal mit besseren, mal mit schlechteren Reden – die Palette reichte von der historischen Rede zum „Tag der Befreiung“ 1985 Richard von Weizsäckers bis zu der Anrede: „Liebe Neger“ bei Heinrich Lübke. Das eine hat dieser Republik nicht wirklich genutzt, weil die politische Klasse sich die Konnotation von 8. Mai 1945 und Befreiung denn doch nicht aneignen wollte, das andere ihr nicht wirklich geschadet. Horst Köhler ist der erste, der die Brocken vorzeitig hinwarf.
Der obligate aufgeregte Medienbetrieb begann mit hastigen Interpretationsübungen. Die üblichen bezahlten Sprechlinge der Konservativen waren schnell bei der Hand: der Mann sei ohnehin überfordert gewesen. Andere nahmen die Kammerdienerperspektive der Geschichte ein und verwiesen darauf, daß dem Köhler der Staatssekretär abgängig war, dann ein Teil des Personals verschwand und am Ende keiner da war, der lesen und schreiben konnte, und der Präsident dann versehentlich den Lübke machte. Lediglich Heiner Geißler, der einst konservative CDU-Mann, der dann zu Attac wechselte, orakelte, man solle nicht vorschnell urteilen, möglicherweise wisse man erst nach Monaten, worum es wirklich ging. Vielleicht war ja die Perspektive des Finanzmannes Köhler auf die Krise doch kritischer, als es in der Öffentlichkeit sichtbar wurde, und er hätte sich eine entschiedenere, weniger zögerliche und weniger einseitig das Bankinteresse befördernde Politik der Bundesregierung gewünscht und wollte nicht am Ende der unterschreibende Absegner der falschen finanzpolitischen Weichenstellungen sein, die diese Regierung in den nächsten Wochen ausbrütet.
Jenseits dessen sind jetzt drei Punkte festzuhalten. Erstens zeigt die Causa Köhler: In der herrschenden Politik ist es das schlimmste Verbrechen, die Wahrheit zu sagen. Der Vorwurf an die Aussage von Köhler, beim Auslandseinsatz der Bundeswehr gehe es um Wirtschaftsinteressen und Handelswege, ist ja nicht, daß das nicht stimmt, sondern daß er es gesagt hat. Und wenn Politiker, die den Afghanistankrieg und andere Kriegseinsätze stets befürwortet haben, nun meinen, der Präsident dürfe nicht zu Dingen aufrufen, die gegen das Grundgesetz verstießen, räumen sie doch gerade ein, daß derlei Krieg durch das Grundgesetz nicht gedeckt ist. Nur, sie tun es trotzdem. Der Überbringer der Nachricht wurde gegeißelt, nicht der Inhalt.
Der zweite Punkt ist, daß Köhler der erste „Seiteneinsteiger“, sprich: Nicht-Berufspolitiker, war, der dieses Amt angetreten hatte. Die bürgerliche Presse munkelte nun, damit hätte sich das wohl erledigt mit den Seiteneinsteigern. Man soll also – das ist das Gemeinte – zu der Kaste der Berufspolitiker in dieser Bundesrepublik gehören, die zwischen Banken-Lobbyisten, Parteitagsintrigen und Medienerwartungen so abgerichtet werden, daß sie stets das Erwartete, Zu-Erwartende und nicht das Unerwartete sagen, das in den Kram paßt und nicht kritisch auslegbar ist. Welche Karrierefrau oder welcher Karrieremann da am besten paßt, wird bald zu sehen sehen. Und da Schwarz-Gelb wohl eine zahlenmäßige Sitzmehrheit in der Bundesversammlung hat, heißt dies, die Person soll vor allem zu der Politik von Frau Merkel passen. Der Bundespräsident ist ja, bei aller Leere seines redenden Tagesgeschäfts, dann plötzlich wichtig, wenn es in den realpolitischen Mehrheitsverhältnissen des Bundestages keine klare Kanzlermehrheit gibt. Schon deshalb will die Kanzlerin jetzt keine parteiübergreifende Volkspräsidentschaft, sondern einen gefügigen Parteisoldaten, oder eine -soldatin.
Hinzu kommt ein Punkt, der festgehalten gehört. Die neuen Medien scheinen tatsächlich eine eigene Wirkkraft zu entfalten. Einige Medienanalytiker haben das en detail recherchiert. Auf dem Rückflug von seinem Truppenbesuch in Afghanistan saß der Radioreporter Christopher Ricke von Deutschlandradio Kultur neben Köhler, stellte Fragen und hielt ihm das Mikrofon hin. Die „professionelle Begleitung“, das heißt, die Aufpasser, die normalerweise darauf achten, daß kein Präsident etwas Falsches sagt, waren nicht dabei. Nun wird gemurmelt: „Fraglich ist, ob Köhler gut beraten war, zu diesem Zeitpunkt zu plaudern.“ (Frankfurter Rundschau, 2./3. Juni 2010) Das ist völlig egal, er hat. Das Gespräch wurde dann am 22. Mai im Radio ausgestrahlt und von den professionellen Großmedien ignoriert. Im Internet jedoch machte die Sache schon Stunden später ihre Runde. Blogger vermerkten, daß hier endlich Klartext gesprochen worden war. Am 27. Mai kamen Köhlers Aussagen dann in den Großmedien an (zu diesem Zeitpunkt ja auch in der Kommentarrubrik des Blättchens). Der Politiker Ruprecht Polenz (CDU) meinte, Köhler habe sich „mißverständlich ausgedrückt“, Spiegel Online sammelte Reaktionen, Jürgen Trittin (Grüne) gab das Stichwort Lübke, das dann Der Spiegel wieder aufnahm mit der Überschrift: „Horst Lübke“, schließlich die Tagesschau.
Hier könnte man fast an die Macht der „4. Gewalt“, der Medien – allerdings nicht der kapitalfinanzierten Großmedien, sondern der Bloggerei – glauben, bliebe nicht das dumpfe Gefühl, daß da vielleicht andere Kräfte walteten. Und zwar entgegen den Beteuerungen, man bedauere und hätte den Köhler gern im Bellevue behalten.