von Wladislaw Hedeler
Auch nach fünfzehn Jahre dauernder Recherche durch „Memorial“ ließ sich die Zahl der auf dem Moskauer Donskoe Friedhof kremierten Opfer des stalinschen Terrors nicht genau ermitteln. Eine 1993 veröffentlichte Liste (Rasstrel’nye spiski, vyp. 1) enthielt die Namen von 670 zwischen 1934 und 1940 erschossenen Sowjetbürgern. Bis 2005 stieg die Zahl der dokumentierten Biografien auf 5065 an. Im Unterschied zu den Listen der in Butovo, Butovo-Kommunarka, Vagan’kovskoe oder auf dem Krankenhausgelände an der Jausa verscharrten Opfern aus den 1920er bis 1940er Jahren sind fast 1500 der Donskoe-Opfer zwischen 1950 und 1953 hingerichtet worden.
Kurze Zeit nach der Veröffentlichung der Erschießungslisten der hier zwischen 1935 und 1953 Verscharrten (Moskau 2005) erschien im Berliner Metropol Verlag ein von Memorial und der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegebener Band über die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoe 1950-1953. Andreas Hilger, Nikita Petrov, Arsenij Roginskij und Jörg Rudolph widmeten ihre Beiträge den 927 nach Moskau verschleppten und im Butyrka-Gefängnis erschossenen Deutschen.
Dieser, inzwischen in 3. vollständig überarbeiteter Auflage (Berlin 2008) vorliegende Band enthielt auch ein Verzeichnis der 91 im sowjetisch besetzten Teil Österreich zum Tode verurteilten Staatsbürger. Nicht immer ließ sich genau definieren, ob es sich um Deutsche oder Österreicher handelte. Auch diese Zahl musste im Laufe der vom Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung unterstützten Recherchen nach oben korrigiert werden. Im von Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx herausgegebenen Band sind Namen von 104 auf österreichischem Staatsgebiet verhafteten und verurteilten Personen, die zwischen dem 28. August 1950 und dem 2. Februar 1953 in Moskau erschossenen wurden, genannt. Insgesamt gerieten über 2000 Österreicherinnen und Österreicher in die Mühlen des sowjetischen Repressionsapparates, „etwa 1000 von ihnen erhielten meist langjährige Haftstrafen, die sie in der UdSSR verbüßten“ (S. 11). Von Mitte 1953 bis 1955 verhängte das Badener Militärtribunal 28990 keine Todesurteile mehr (S. 77).
An der Kommentierung wirkten außer den Herausgebern und den bereits im Band über die deutschen Opfer vertretenen Autoren Dieter Bacher, Vitalij Christoforow, Frank Drauschke, Martin Florian, Walter M. Iber, Harald Knoll, Olga Lavinskaja, Edith Petschnigg und Tessa Szyszkowitz mit. Das in allen Fällen ähnliche Prozedere von der Verhaftung bis zur Erschießung nimmt eine knappe Seite des Buches ein (S. 54). Wie im Falle der Deutschen lässt die Gesamtheit der im Buch über die Österreicher dokumentierten Schicksale kein Prinzip sondern Willkür erkennen. Es ging nicht mehr um die Aburteilung von Nazi- und Kriegsverbrechen, sondern um die Ausschaltung echter und vermeintlicher Spione und Informanten jugoslawischer, britischer, französischer und amerikanischer Dienste. Im Unterschied zu den Deutschen wurden die Todesdaten der Österreicher nicht verfälscht (S. 62).
Signifikante Opfergruppen und vergleichbare Festnahmeverfügungen lassen sich hingegen in beiden Ländern nachweisen. In Deutschland Bergleute aus dem Uranbergbau bei der SAG Wismut, in Österreich Bürger, die die Verwaltung des Sowjetischen Eigentums in Österreich oder die Sowjetische Mineralölverwaltung ausspionierten; in Deutschland Mitglieder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, in Österreich „Handlanger des NTS (Volksbund der Schaffenden). Der Anteil der aktiven Widerständler war in Deutschland höher, in Österreich wirkte sich die materielle Notlage stärker aus. Die westlichen Geheimdienste verhielten sich unter Bedingungen des Kalten Krieges hier und da gleich, sie überließen die Verfolgten ihrem Schicksal. Sowohl die Autoren des deutschen als auch des österreichischen Bandes betonen, dass die Agententätigkeit eines Teils der Verhafteten die gegen sie verhängten Urteile in keiner Weise rechtfertigen kann. Ein Blick in die Rehabilitierungsbescheide genügt: die weitergegebenen „Spionageinformationen“ waren oft „allgemein zugänglich und den Alltag betreffend“.
Stefan Karner; Barbara Stelzl-Marx (Hg.) Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950-1953. Unter Mitarbeit von Daniela Almer, Dieter Bacher und Harald Knoll. Wien: Böhlau Verlag; München: Oldenbourg Verlag, 2009, 676 Seiten, 39,80 Euro
Schlagwörter: Barbara Stelzl-Marx, Österreich, Stalinismus, Stefan Karner, Wladislaw Hedeler