von Frank Ufen
Eine alltägliche Situation: Zwei Männer geraten aus irgendeinem Grund aneinander, und der eine fühlt sich vom anderen provoziert. Zuerst rempeln sie sich an und schubsen sich hin und her. Schließlich schlägt einer der beiden zu, worauf der andere mit einem etwas härteren Schlag antwortet, wodurch sein Gegenspieler wiederum veranlaßt wird, zu einem noch wuchtigeren Schlag auszuholen. Eine solche Eskalation der Gewalt wird herkömmlicherweise damit erklärt, daß keiner der beiden Gegenspieler zurückzuweichen bereit ist, weil beide nicht als Feigling gelten wollen. Doch diese Erklärung wird neuerdings von der Neurobiologie in Frage gestellt.
Vor einiger Zeit hat sich der britische Neurowissenschaftler Daniel Wolpert ein ebenso einfaches wie originelles Experiment einfallenlassen. Bei diesem Experiment sollte eine männliche Versuchsperson mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Metallhebel drücken, der auf den linken Zeigefinger einer anderen männlichen Versuchsperson preßte. Danach sollten die Probanden mehrmals die Rollen tauschen. Beide Männer erhielten außerdem die Anweisung, immer dann, wenn sie an der Reihe waren, auf den Hebel jeweils genauso viel Kraft auszuüben, wie sie ihr Gegenüber unmittelbar vorher ausgeübt hatte.
Als die Versuchspersonen den Hebel abwechselnd je neun Mal niedergedrückt hatten, war die angewandte Kraft um nahezu das 20-fache gestiegen. Doch hinterher beteuerten beide, Wolperts ausdrückliche Anweisung, sich in keiner Runde stärker ins Zeug zu legen als der andere, peinlich genau befolgt zu haben.
Dieses merkwürdige Phänomen – behauptet der amerikanische Neurowissenschaftler David J. Linden – ist einzig und allein auf einen Konstruktionsfehler des menschlichen Gehirns zurückzuführen. Die für die Steuerung der Fingerbewegungen zuständige Gehirnregion schickt nämlich immer wieder Signale an das Kleinhirn, um ihm mitzuteilen, mit welcher Kraft der Hebel vom Finger niedergedrückt worden ist. Gestützt auf diese Informationen, sagt das Kleinhirn voraus, welche sensorischen Empfindungen dann jeweils zu erwarten sind. Diese Prognosen übermittelt es dann dem somatosensorischen Cortex, damit die beim Drücken des Hebels in der Fingerspitze dauernd zu spürenden Empfindungen gehemmt werden. Diese nur bei den eigenen Körperbewegungen auftretende Hemmung gleichen die Versuchspersonen unwillkürlich dadurch aus, daß sie beim Drücken mit dem Finger übermäßig viel Kraft aufwenden.
Dieser Hemmungs-Mechanismus bewirkt außerdem, daß jeder Versuch vergeblich ist, sich selbst zu kitzeln. In erster Linie dient er allerdings dazu, kontinuierlich wiederkehrende Sinnesempfindungen – etwa diejenigen, die aus dem Reiben der Kleidung auf der Haut hervorgehen – weitgehend auszublenden, damit Veränderungen in der Außenwelt umso aufmerksamer registriert werden können. Dieser Mechanismus ist zwar eine bedeutende Errungenschaft der Evolution. Aber er läßt sich nicht abschalten, und das hat mitunter üble Folgen.
Nicht wenige halten das menschliche Gehirn für einen perfekt konstruierten Supercomputer mit universalen Anwendungsmöglichkeiten. In David Lindens Augen ist diese Auffassung fundamental falsch. In Wahrheit – erklärt er – ist der menschliche Denkapparat nichts anderes als ein Provisorium, zusammengestückelt aus disparaten Einzelteilen, die aus verschiedenen Phasen der Evolutionsgeschichte stammen – wobei die phylogenetisch jüngeren Teile den archaischen, die zu einem Reptilien- und zu einem Säugetiergehirn gehören, bloß aufgepfropft sind. Außerdem seien die Neuronen schlechte Prozessoren, die die elektrischen Signale extrem langsam und ineffizient übertragen und allenfalls ein Drittel von ihnen zu ihrem Bestimmungsort bringen würden. Dass das Gehirn trotz dieser Mängel einigermaßen funktioniert, liegt laut Linden im Wesentlichen daran, daß es 100 Milliarden Neuronen aktivieren kann und daß die synaptischen Verbindungen zwischen ihnen sich mit jeder neuen Erfahrung verändern.
Geleitet von diesen Grundannahmen analysiert Linden die neurobiologischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung, der elementaren Emotionen, des Lernens, der Intelligenz, des Gedächtnisses und der Individualität, des Schlafs und des Traums, der Sexualität und der Liebe. Zum Schluß provoziert er mit der These, daß sämtliche Religionen und Gottesvorstellungen in der Funktionsweise des Gehirns ihren Ursprung hätten.
Die Behauptung, daß die Evolution dem Menschen ein schludrig zusammengeschustertes Gehirn verpaßt hat, ist reichlich übertrieben. Aber das weiß David Linden selbst, und er schaffte es schließlich, die pseudowissenschaftliche Doktrin des „intelligent design“ aus den Angeln zu heben. Ansonsten gehört das, was er hier schreibt, zum Aufschlußreichsten und Unterhaltsamsten, was in den letzten Jahren über die Architektur und Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu Papier gebracht worden ist.
David J. Linden: Das Gehirn – ein Unfall der Natur. Und warum es doch funktioniert. Rowohlt, 316 Seiten, 19,95 Euro
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