von Holger Politt, Warschau
Zwei Jahre lang war Jaroslaw Kaczynski der mächtigste Mann der polnischen Politik. Sein Zwillingsbruder Lech war frischgebackener Staatspräsident, er selbst schickte sich nach den knapp gewonnenen Parlamentswahlen 2005 an, das Land so zu regieren, als hätte er im Parlament die absolute Mehrheit hinter sich. Was die Verfassungsväter nie für möglich gehalten hatten, trat ein. Eine einzige Familie teilte die beiden wichtigsten politischen Machtpositionen unter sich auf – jeweils legitimiert durch demokratische Wahlen.
Als er bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2007 den Posten des Ministerpräsidenten verlor, blieb Jaroslaw Kaczynski Vorsitzender der größten Oppositionspartei, die nun erst recht zur Präsidentenpartei wurde. PiS (Recht und Gerechtigkeit) war immer konservativer, kirchenorientierter, geschichtspolitischer, auf Werte und Symbole versessener, aber auch sozialer als die vor diesem Hintergrund überaus liberal erscheinende PO (Bürgerplattform). Der große Unterschied zwischen den beiden nun schon seit etlichen Jahren wichtigsten Parteien Polens lag in der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die einen als kräftigen Wind in ihre Segel beförderten, die anderen jedoch als eine Sache behandelten, die den Polen ohne heimische Symbole und Werte letztlich ihre Identität berauben würde. Der Mythos des „solidarischen Polens“ begann zu blühen.
Zur wichtigsten Bastion dieser „solidarischen“, also nicht „liberalen“ Seite des Landes wurde nach dem Verlust der Regierung das Präsidentenamt. Als es durch die Flugzeugkatastrophe vor Smolensk verloren ging, gab es nur noch einen Ausweg. Der Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski muß nun selbst versuchen, die Kastanien gegen die „liberale“ Konkurrenz aus dem Feuer zu holen. Während auf der parlamentarischen Ebene für PiS die Felle ohnehin eher wegzuschwimmen begannen, blieb doch der erhoffte Einbruch der PO im zurückliegenden Krisenjahr aus, soll wenigstens dort, wo Symbole und Werte ohnehin mehr bedeuten, ein so dringend benötigter Sieg errungen werden. Doch selbst ein Achtungserfolg würde zählen.
Denn der Vorsprung des PO-Kandidaten ist im Augenblick deutlich. Bronislaw Komorowski, der Sejm-Marschall und ein dem Temperament nach eher zurückhaltender Politiker-Typ, beginnt fast ohne eigenes Zutun auf der Welle einer latenten Anti-Kaczynski-Stimmung zu schwimmen. Wer aus Erfahrung keinen weiteren Kaczynski-Präsidenten möchte, wird wohl Komorowski wählen. Es reicht, von Normalität, politischer Stabilität und über dies und jenes zu sprechen, dabei allzu offensichtliche Angriffe zu vermeiden, und der Sieg – so machen die Umfragen derzeit glauben – wäre ihm nicht zu nehmen. Und sollte der Konkurrent indes angreifen, könnte er stets gut parieren.
Denn Jaroslaw Kaczynski, der die Polarisierung liebt, hat mit Komorowski einen denkbar unbequemen Gegner. Würde er die konservative Karte ziehen, träfe er auf einen Mann, der im Rahmen der PO konservativer nicht sein könnte. Eine Liberalisierung des rigiden Abtreibungsrechts etwa, wäre auch mit ihm nicht ohne weiteres zu machen. Angebote an den Klerus? Auch da hätte Komorowski keine Schwierigkeiten, wenn die verfassungsgebotene Trennung von Staat und Kirche weiterhin auf dem Papier stehen bliebe. Geschichtspolitik? Auch hier überzeugte Komorowski bei den Trauerfeierlichkeiten für das verunglückte Präsidentenpaar durchaus mit sicherem Instinkt und einfachen patriotischen Botschaften. Und das erforderliche ernsthafte Auftreten in der Sphäre von Symbolen und Werten traut dem Sejm-Marschall ohnehin fast jeder zu.
Bliebe noch die soziale Karte, die allerdings beim Zwillingsbruder Lech immer besser aufgehoben war. Dennoch erhielt Jaroslaw Kaczynski soeben die volle Unterstützung der Gewerkschaft „Solidarnosc“, die eben in ihm auf der hohen politischen Ebene im weiten Meer der neoliberalen PO-Vormacht den letzten Verteidiger der Arbeitnehmerrechte sehen möchte. Allein im Ehrenkomitee für Komorowski sitzen mit Lech Walesa und Tadeusz Mazowiecki zwei Urgesteine der „Solidarnosc“-Bewegung. Auch die „Solidarnosc“-Karte ist nur eine relative.
Sollten, was zu erwarten ist, beide in die Schlußrunde kommen, ginge das Rennen nach heutiger Stimmungslage wohl 60 zu 40 für den Sejm-Marschall aus. Ob Jaroslaw Kaczynski in der Lage sein wird, Boden gut zu machen, werden die nächsten Wochen zeigen. Eine neue oder Vierte Republik kann nicht noch einmal aus dem Ärmel gezogen werden. Die Entscheidung werden die Polen eher mit Blick auf die nächsten Jahre treffen. Da sind Anspielungen auf Unabgegoltenes aus der Vergangenheit weniger verlockend.
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