13. Jahrgang | Nummer 10 | 24. Mai 2010

Gipfel-Nachlese

von Wolfgang Schwarz

Die Autobombe, die am 1. Mai am Times Square in New York – einem der belebtesten Plätze der Stadt – entdeckt wurde, hat glücklicherweise nicht funktioniert, und das betreffende Fahrzeug enthielt auch keine radioaktiven Substanzen, die mittels einer konventionellen Explosion eine radioaktive Kontaminierung der New Yorker Innenstadt hätten herbeiführen können. Vor der Möglichkeit eines solchen Szenariums warnen Experten allerdings seit Jahren: Terroristische Kräfte gelangen – etwa durch Überfall auf ein Depot, durch Diebstahl aus einer unzureichend gesicherten zivilen Forschungs- oder nuklearmedizinischen Einrichtung oder durch Schwarzmarktgeschäfte – an spaltbares Material (hochangereichertes Uran / HEU oder Plutonium) oder an andere strahlende Substanzen und verwenden diese, etwa weil die Voraussetzungen für die Herstellung einer „klassischen“ Fusions-Atomwaffe fehlen, für eine so genannte schmutzige Bombe. Mit diesem Begriff werden konventionelle Sprengsätze bezeichnet, die darauf abzielen, großflächige radioaktive Verseuchungen – z. B. in dichtbesiedelten Großstädten mit einer hohen Anzahl potentieller Opfer – herbeizuführen. Besonders katastrophal wäre dies im Falle des waffenfähigen Plutoniumisotops 239. Das ist zum einen extrem toxisch: Bereits eine Dosis von lediglich 50 Milligramm kann für den Menschen letal sein. Zum anderen ist die Strahlung von Plutonium bei direktem Kontakt mit menschlichem Gewebe hoch aggressiv – bereits ein Millionstel Gramm kann, eingeatmet, Lungenkrebs hervorrufen. Und zum dritten ist es mit einer Halbwertzeit von 24.000 Jahren besonders langlebig.

Nach Angaben des jüngsten Global Fissile Material Report, der von der Stanford University und dem International Panel on Fissile Materials (IPFM) herausgegeben wird, beliefen sich die Weltvorräte an HEU Mitte 2009 auf rund 1.600 Tonnen, die an Plutonium – hauptsächlich Pu 239 – auf etwa 500 Tonnen.* Nach IPFM-Angaben würden diese Mengen für je 60.000 Atombomben vom Typ Hiroshima (Uranium-Bombe) und vom Typ Nagasaki (Plutonium-Bombe) ausreichen. Der größte Teil dieser Bestände befindet sich im Besitz oder zumindest unter der Kontrolle der derzeit neun Kernwaffenstaaten (USA, Rußland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan, Nord-Korea) – bei HEU sind es 99 Prozent, und allein 95 Prozent entfallen auf die USA und Rußland. Doch nicht einmal im Hinblick auf diese Staaten kann von einer durchgängigen maximalen Sicherung der Bestände gegen unautorisierte Zugriffe ausgegangen werden. Pakistan gilt als Hochburg von Al Kaida, hat ein höchst instabiles Regime, und es herrschen regional bürgerkriegsähnliche Zustände. Für Rußland werden von internationalen Experten zumindest im Hinblick auf die landesweit in die Hunderte gehenden zivilen Einrichtungen, die mit spaltbarem und anderem radioaktiven Material umgehen, immer wieder Zweifel in die Lückenlosigkeit der Sicherheitsstandards angemeldet. Und bezüglich der auf dem Fliegerhorst Büchel der Bundesluftwaffe lagernden US-Nuklearbomben monierte ein amerikanischer Kontrollbericht vor nicht allzu langer Zeit Mängel in der Sicherung des Areals.

Die kritische Masse, das Minimum an spaltbarem Material, für die Herstellung einer Atombombe vom Hiroshima-Typ beträgt lediglich 12 bis 15 Kilogramm HEU und für eine vom Nagasaki-Typ gar nur etwa vier Kilogramm Plutonium. Schon in den frühen 70er Jahren hatte John Forster, Ex-Direktor des U.S. Lawrence Livermore National Laboratory, das 1952 speziell zur Entwicklung von Kernwaffen gegründet worden war, gewarnt: Das einzige wirkliche Hindernis auf dem Weg zur Bombe sei die Gewinnung von spaltbarem Material in der nötigen Reinheit. „Das Design der Bombe selbst ist relativ leicht.“ Und für „schmutzige Bomben“, so ist zu ergänzen, benötigt man weder eine kritische Masse noch ein spezifisches Design.

In diesem Kontext kommt dem Sachverhalt, daß gegenwärtig genügend nukleares Material für hunderte von Waffen allein in zivilen Forschungseinrichtungen rund um den Globus zu finden ist, eine nicht zu unterschätzende sicherheitspolitische Bedeutung zu. In 38 Ländern operieren über 130 Forschungsreaktoren mit HEU – Reaktoren, die, wie Matthew Bunn von der Havard University in seiner gerade veröffentlichten Studie „Securing the Bomb 2010“, konstatiert, „vor Ort oftmals nur über die aller geringsten Sicherheitsmaßnahmen verfügen“. Ein Papier der vom ehemaligen US-Senator Sam Nunn und vom Medienunternehmer Ted Turner präsidierten Nuclear Threat Initiative warnte daher völlig zu Recht: Terroristen, die sich nukleares Waffenmaterial beschaffen wollen, würden sich nicht dahin wenden, wo das meiste Material zu finden sei, sondern dahin, wo sie es am Leichtesten in ihre Gewalt bringen könnten.

Daß dergleichen Warnungen bisher nur Menetekel geblieben sind, sollte mit Blick auf die Zukunft niemanden einlullen. Bei der Internationalen Atomenergiebehörde wurden allein von 1993 bis 2008 15 Verlustmeldungen eingereicht, die HEU oder Plutonium betrafen. Seit 1993 gab es global fast 20 Fälle von versuchtem Diebstahl von spaltbarem Material, und auch Fälle von Schwarzmarkthandel sind bereits aktenkundig.

Die Probleme als solche sind im Übrigen weder neu noch in der internationalen Staatengemeinschaft etwa erst seit gestern auf der Tagesordnung. Bereits 1980 war eine internationale „Konvention über den physischen Schutz nuklearen Materials“ geschlossen worden, zu deren Erstunterzeichnern seinerzeit auch die beiden deutschen Staaten gehörten. Leider war dieser Tiger ein ziemlich zahnloser, weil die Mitgliedsstaaten keine obligatorischen Verpflichtungen eingingen, keine Kontrollmaßnahmen und schon gar keine Sanktionen für den Fall von Zuwiderhandlungen vereinbarten, sondern sich auf Willensbekundungen beschränkten. Ein 2005 vereinbarter Zusatz zu dieser Konvention, der deren Regime stärken sollte, war mit Stand vom November 2009 erst von 31 der 142 Mitgliedsstaaten ratifiziert und ist infolgedessen noch nicht in Kraft getreten.

Wesentlich substantieller haben da die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes agiert, als sie 1992 – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – das Cooperative Threat Reduction Programm ins Leben riefen, um sowjetische Kernwaffen aus nicht-russischen GUS-Staaten (Ukraine, Weißrußland und Kasachstan) nach Rußland zurückzuführen. Parallel dazu wurden Programme realisiert, um nukleare Materialen sowjetischer Herkunft aus Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Kasachstan und Georgien sowie später auch aus Libyen zu sichern und ins Ursprungsland zu repatriieren. Für all diese Maßnahmen wendeten die USA weit mehr als zehn Milliarden Dollar auf. Erreicht wurden damit letztlich jedoch nur Teillösungen, denn nun konzentrieren sich die betreffenden Bestände in Rußland …

Unlängst formulierte US-Außenministerin Hillary Clinton: „Heute sind nukleare Weiterverbreitung und nuklearer Terrorismus das, was während des Kalten Krieges als größte Bedrohung … angesehen wurde – die Gefahr eines atomaren Großangriffs.“ Vor diesem Hintergrund hatte Clintons Vorgesetzter Barack Obama für den 12./13. April zu einem höchstrangigen Nukleargipfel nach Washington geladen. 46 Staaten waren seiner Einladung gefolgt und überwiegend durch Staats- und Regierungschefs vertreten. Allerdings: Israel hatte seine Teilnahme kurzfristig abgesagt; Iran, Nord-Korea und Syrien waren gar nicht erst eingeladen worden.

Herausgekommen in Washington ist eine Absichtserklärung der Beteiligten, binnen vier Jahren sämtliches spaltbares Material tatsächlich und nachhaltig gegen mögliche Zugriffe durch Kriminelle und Terroristen zu schützen. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte bei dieser Gelegenheit vor der Gefahr „schmutziger“ Atombomben. Konkreter wurden andere: Die Ukraine, Kanada und Mexiko haben ihren völligen Verzicht auf waffenfähiges Uran erklärt und wollen ihre Bestände mit Hilfe der USA in den nächsten Jahren entsorgen. Die USA und Rußland vereinbarten, ab 2018 je 34 t Plutonium zivil zu nutzen oder endzulagern, und Rußland schaltete unmittelbar nach dem Gipfel seinen letzten Reaktor zur unmittelbaren Produktion von Plutonium zur Kernwaffenherstellung ab. (Die USA vollzogen einen vergleichbaren Schritt bereits 1988.)

Dieser Gipfel war kein wirklicher Durchbruch, aber er hat die Behandlung der Probleme erstmals zur Chefsache gemacht. Ob er damit die Welt schon sicherer gemacht hat, wie Barack Obama meinte einschätzen zu können, muss die Zukunft zeigen. Dazu müßte der Gipfel Auftakt zu einem Prozeß sein, der zu einem wirklich durchgreifenden internationalen Regime im Umgang mit spaltbaren und anderen radioaktiven Materialen führt. Und ein solches Regime müßte alle relevanten Staaten einbeziehen – auch die in Washington nicht geladenen oder vertretenen.

Ein Nachfolgetreffen für die jetzige Washingtoner Runde ist für 2012 in Süd-Korea vereinbart worden.

* – Nach Angaben des Forschungszentrums Karlsruhe der Helmholtz-Gemeinschaft war Deutschland bereits im Jahre 2000 Eigentümer von 80 Tonnen Plutonium, und in deutschen Kernkraftwerken sollen jährlich vier bis fünf weitere Tonnen anfallen.