von Erhard Crome
Parteiprogramme sind Objekte der Begierde, vor allem wenn es um linke geht. So ist es nicht verwunderlich, daß diese Begierde auch bürgerliche Beobachter erfaßt. Jüngst wurde eine Dissertation publiziert, die sich mit den Programmdebatten der PDS von 1990 bis zum Übergang zur LINKEN beschäftigt (Sebastian Prinz: Die programmatische Entwicklung der PDS. Kontinuität und Wandel der Politik einer sozialistischen Partei, Wiesbaden: VS Verlag 2010).
Wenn man in dem Band zunächst nur blättert, scheint Schlimmes zu befürchten. Die einschlägig bekannten „Totalitarismus“-Forscher und Kommunistenfresser Eckhard Jesse aus Chemnitz und Manfred Wilke, bisher „Forschungsverbund SED-Staat“ in Berlin, jetzt wohl Rentner, fungierten als Gutachter, die Hanns-Seidel-Stiftung (der CSU) förderte das Projekt. Ein weiterer Professor, Alexander Schuller, schrieb ein dreiseitiges „Geleitwort“ – im Buch wird nicht mitgeteilt, warum dieser dazu ausersehen wurde.
So etwas kann man normalerweise vergessen. Dieses aber kommt besonders perfide daher. Zunächst ein Gemeinplatz: „Von Anfang an war das Verhältnis von Theorie und Praxis sowohl der erkenntnistheoretische Angelpunkt als auch das politische Dilemma der marxistischen Theorie.“ Das wissen marxistische Theoretiker seit Jahrzehnten. Was uns das hier soll, bleibt im Dunkel. Dann kommt Schuller nach mehreren Pirouetten plötzlich und unerwartet auf die Rede Stalins vor dem Moskauer Sowjet am 6. November 1941 zu sprechen. Stalin habe „den Anspruch der NSDAP, den Nationalen Sozialismus zu verkörpern, mit Empörung“ zurückgewiesen. Weil, so Schuller: „Der wahre und einzige National-Sozialismus sei der sowjetische.“ So seien Stalin und Hitler „die beiden großen Nationalsozialisten“. Das alles ist nicht Originalton Stalin, sondern Schuller. Der Mann kann entweder nicht lesen oder nicht denken oder es geht absichtsvoll um eine bösartige Denunziation. Schaut man in den wirklichen Text der Stalin-Rede, so argumentiert dieser, daß die Nazis nicht nur lügen, wenn sie sich „Sozialisten“ nennen, sondern auch, wenn sie sich als „national“ bezeichnen, weil eine Partei, die fremde Gebiete raubt und europäische Nationen unterjocht, keine „nationalistische Partei“ ist, sondern eine „imperialistische, annexionistische Unterdrückerpartei“. Schullers Behauptung ist durch die Aussagen Stalins nicht gedeckt. Hier wird nicht einfach ein Gleichheitszeichen zwischen Hitler und Stalin gesetzt, wie es die „Totalitarismus“-Ideologen immer wieder gern tun, sondern Stalin wird unverhohlen zum Nazi erklärt, was im 65. Jahr der Befreiung vom Hitlerstaat und angesichts des besonderen Anteils der Sowjetunion daran eine besondere Frechheit und offene Geschichtslüge ist.
Nimmt man dies als die gewollte Kontextualisierung, wird nicht nur der Realsozialismus mit dem Hitlerfaschismus in eins gesetzt, sondern der PDS (jetzt der LINKEN) neben der Stalinismus-Schelle gleich noch eine NS-Schelle um den Hals zu hängen versucht. An dieser Stelle muß der Autor Sebastian Prinz gegen die Schuller-Manipulation verteidigt werden. Er bemühte sich, eine ernsthafte Arbeit zu schreiben, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt (ob das trotz Jesse und Wilke geschah oder mit ihrem Zutun, muß hier unbeachtet bleiben). Auf jeden Fall haben die Invektiven des Schuller und die Prinz-Arbeit nichts miteinander zu tun. Vielleicht wurden sie ja auch nur deshalb vorangestellt, weil derlei abgestandene „Totalitarismus“-Halluzinationen sonst nicht vorgekommen wären.
Betrachtet man nun das Buch aus linker Sicht, entsteht eine interessante Mehrfach-Spiegelung: Prinz schaut auf die Linke, und diese schaut auf ihn, oder anders gesagt: der (zweite) Beobachter beobachtet den (ersten) Beobachter, dessen Beobachtungsgegenstand wiederum der (zweite) Beobachter ist. Zudem war der Mann fleißig: es gibt einhundert Seiten Literaturverzeichnis, auch alle möglichen abgelegenen, verstreuten Quellen wurden hinzugezogen; mir ist nicht aufgefallen, daß Wichtiges fehlte.
Die PDS hatte drei Parteiprogramme, das erste bereits im Frühjahr 1990, als Moment des Umbruchs, eigentlich ohne große Diskussionen angenommen; das zweite 1993, dem bereits eine wirkliche Diskussion vorausgegangen war, und das dritte 2003. Die „Gegensätze“ innerhalb der Partei, wie sie sich in Gestalt der Strömungen und Gruppierungen ausgeprägt hatten, sind – so Prinz‘ Befund – „insbesondere in programmatischen Stellungnahmen zum Ausdruck“ gekommen. Zunächst, nach 1989, habe in der PDS eine „programmatische Orientierungslosigkeit“ geherrscht, die dann in den Programmdebatten durch die verschiedenen Richtungen zu beseitigen versucht wurde. Die ursprünglichen Differenzen zwischen „Orthodoxen“ und „Reformern“ seien dann insbesondere auch von einem Ost-West-Gegensatz überlagert worden. Allerdings war für die programmatische und politische Entwicklung charakteristisch, daß eine reformerische Minderheit in der politischen Arena agierte, der eine orthodoxe Mehrheit der Mitglieder gegenüberstand. Der Gang der Programmdebatten war Folge dieser Konstellation.
Vor diesem Hintergrund werden genüßlich die unterschiedlichsten Bewertungen bemüht, die bereits zu ihrer Zeit innerhalb der PDS umstritten waren. So die Meinung des früheren Bundestagsabgeordneten (und noch früher stellvertretenden Kulturministers der DDR) Dietmar Keller, es habe ein regelrechtes Abkommen zwischen Reformern und Orthodoxen gegeben, die ersteren würden letztere in der Partei akzeptieren und ihre Interessen vertreten, wenn sie „die Klappe halten“ (2000). Oder die Meinung, die „Parteirechten“ würden ihre Positionen „im Apparat“ nutzen, um ihre Positionen auch unter Mißachtung demokratischer Spielregeln durchzusetzen (Harry Nick, 2003). Für eine linke Partei sei aber die Verschiebung des politischen Schwerpunkts in die Parlamentsfraktionen besonders problematisch (Michael Brie, 2003).
Das Beobachten des Beobachters zeigt aber auch bald seine Grenzen. Der Autor hat in Bezug auf den Vorstandsentwurf von 2001 ein Material des „Marxistischen Forums“ ausgewertet, in dem es heißt: „Entsetzt und deprimiert haben mich die Flachheit, Inhaltsleere und Ungenauigkeit, mit der hier sozialdemokratischer Reformismus vorgetragen wird.“ Der dies feststellte, war allerdings Hans Heinz Holz, der die Programmdebatte der PDS ja wohl eher vom Standpunkt der DKP betrachtete, die wiederum sich selbst als marxistische Avantgardepartei ansieht und schon deshalb grundsätzliche Einwände gegenüber der PDS als linkssozialistische Partei hat – was dem Autor Prinz nicht aufgefallen ist. Das gilt denn wohl auch für den Satz, das Parteiprogramm von 2003 sei „der belangloseste Text dieser Art, den die deutschen sozialdemokratischen und sozialistischen Bewegungen seit 1848 hervorgebracht haben“. Der stammt von Georg Fülberth aus dem Jahre 2007.
Und die Kriterien, von denen aus beobachtet wurde? So bemerkenswert es ist, daß Prinz die Totalitarismus-Ideologie in dem grobschlächtig-primitiven Sinne seiner Gutachter nicht bedient, so aufschlußreich ist es, wenn er doch über die Frage räsoniert, ob und wie es denn die PDS mit dem Grundgesetz halte. So wirft er André Brie (unter Bezugnahme auf einen Text von 1991) vor, „daß selbst er als führender Reformer die Grundordnung der Bundesrepublik fundamental verändern beziehungsweise beseitigen wollte“. Weil? „Brie bekannte sich zum sozialistischen Ziel.“ Dann analysiert Prinz selbst das Programm von 2003 und folgert, die PDS wolle „tragende Säulen der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik schwächen beziehungsweise beseitigen“. Indem sie was will? Die juristische Privilegierung von Ehe und Familie aufheben, die Gesamtschule einführen, den individuellen Straßenverkehr vermindern und aus der NATO austreten. Und deshalb das Fazit: „Das Abwerfen programmatischen Ballasts heißt jedenfalls nicht, die PDS-Politiker wären zu überzeugten Befürwortern der Marktwirtschaft, des Privateigentums, des Parlamentarismus und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geworden“. Bloß gut, daß die Kommunisten nicht auch noch an den katholischen Päderasten schuld sind.
Und das wird jetzt nach der Fusion mit der WASG noch schlimmer!
Schlagwörter: Die Linke, Erhard Crome, PDS, Sebastian Prinz