von Feliks Tych
Herr Bundestagspräsident, Herr Staatspräsident Peres, Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Ich bedanke mich für die Einladung und die Möglichkeit, in der heutigen Gedenkstunde zu Ihnen sprechen zu dürfen. Es ist eine große Ehre und für jemand, der überlebt hat, ist es eine besondere Genugtuung.
Als Deutschland den Krieg begann, war ich zehn. Am 1. September 1939 sollte mein fünftes Schuljahr beginnen. Doch bis zum Ende der deutschen Besatzungszeit ging ich nicht mehr zur Schule. Das Dritte Reich hatte mit jüdischen Kindern anderes vor.
Wir wohnten damals in Radomsko, einer kleinen Industriestadt, 60 km vor der deutschen Grenze. Mein Vater, ein technischer Autodidakt, besaß eine kleine Fabrik für Baubeschläge. Von den 28.000 Einwohnern der Stadt war ein Drittel jüdisch. Heute wohnt dort kein einziger Jude mehr.
Am dritten Kriegstag rückte die Wehrmacht ein. Als erstes plünderten Mannschaften wie Offiziere jüdische Läden. Gestapo- und SS-Männer nahmen Juden auf der Straße fest oder holten sie aus den Häusern, um sie zu schikanieren. Sie hatten nichts dagegen, daß polnische Passanten ihnen dabei zusahen. Vermutlich lag ihnen sogar an diesen Zuschauern.
Am 20. Dezember mußte die jüdische Bevölkerung ohne Vorankündigung der deutschen Behörden sofort in einen kleinen Teil der Stadt umziehen, der seitdem bei der Bevölkerung Ghetto hieß. Es hatte weder Zäune noch Mauern, nur deutsche oder polnische Polizisten standen an der Ghettogrenze. Auf Schildern wurde davor gewarnt, es unerlaubt zu betreten oder zu verlassen.
Wir hatten unsere Wohnung innerhalb weniger Stunden zu räumen. Meine Eltern, drei meiner Geschwister und ich mußten fortan in einer Dachkammer auf knapp 12 Quadratmetern hausen.
Fast alle Ghettobewohner lebten im Elend. Männer zwischen 16 und 55 Jahren hatten Sklavenarbeit zu leisten, welche die deutschen Behörden für sie erfanden. Im Sommer 1940 starben während einer Typhusepidemie Hunderte von Menschen.
Meinem rational denkenden Vater kam gar nicht in den Sinn, daß wachsender Terror und zunehmende Schikanen schließlich mit der Vernichtung der Juden enden könnten. Dies schien ihm unvorstellbar, weil gänzlich irrational und im Widerspruch zu Deutschlands Interessen, das doch Krieg führte und Arbeitskräfte brauchte. Er erinnerte sich noch an die weit weniger brutale deutsche Besatzung im 1.Weltkrieg. So habe ich ihn oft sagen hören: „Hitler hin, Hitler her, aber die Deutschen sind kein Volk von Mördern!“ Was er in den letzten Minuten seines Lebens in Treblinka dachte, werde ich niemals erfahren,
Anfang September 1942 gingen im Radomsker Ghetto Gerüchte um, daß eine große Aktion bevorstände. Wie die meisten, dachten auch meine Eltern dabei an eine Art Pogrom oder große Menschenjagd, um Arbeitslager aufzufüllen. Sie beschlossen daher, mich, den Jüngsten, besser zu meiner 15 Jahre älteren Schwester zu schicken, die in Warschau lebte. Sie hatte noch im Juli 1942, vor der großen Deportation, mit Mann und zweijährigem Sohn aus dem Ghetto auf die sogenannte arische Seite flüchten können. Polnische Arbeitskollegen meines Schwagers – er war Architekt – hatten für alle drei so genannte arische Papiere, eine Unterkunft und für ihn auch eine Arbeit in ihrem Architektenbüro besorgt. Bei ihnen sollte ich die geheimnisvolle Aktion abwarten und wenn sich alles beruhigt hätte, wieder zurückkommen. Ende September mußte ich mich heimlich aus dem Ghetto zu einem polnischen Arbeiter stehlen, der früher in der Fabrik meines Vaters gearbeitet hatte. Er brachte mich noch am selben Tag mit dem Zug nach Warschau. Als ich mich von meinen Eltern verabschiedete, dachte ich keinen Moment daran, daß ich sie zum letzten Mal sehen könnte. In Warschau fand mein Schwager über eine Arbeitskollegin eine Frau die mich aufnehmen wollte – trotz der Todesstrafe, die im besetzten Polen ihr samt ihrer Familie drohte, wenn sie einem Juden half. Sie hieß Wanda Koszutska und hatte selbst zwei kleine Kinder. Vor dem Krieg war sie Gymnasiallehrerin und nun arbeitete sie als Küchenhilfe in einer polnischen Betriebskantine. Bevor sie endgültig zusagte, wollte sie mich sehen. Ich erinnere mich an die ersten Worte, die ich von ihr hörte: „Ja, er sieht doch gut aus.“ „Gut aussehen“ hieß damals in meinem Fall, nicht anders auszusehen als ein durchschnittliches polnisches Kind. Meine blonden Haare und hellen Augen boten mir und meinen Rettern größere Überlebenschancen. Wanda konnte mich nicht verstecken und so musste ich für ihre Nachbarn als ein Familienangehöriger existieren. Ich wurde ihnen als Sohn ihrer verstorbenen Schwester vorgestellt. Mein Schwager versah mich mit einer falschen Geburtsurkunde und einem falschen Schulausweis.
Meine Schwester verschwieg mir bis ans Kriegsende, daß unsere Eltern nicht mehr lebten. Wenn ich nach ihnen fragte, bekam ich zur Antwort: „Wir wissen nicht, wohin die Deutschen sie gebracht haben.“ Sie wollte mir nicht die Hoffnung nehmen. Erst nach dem Krieg erfuhr ich, was nach meiner Flucht aus dem Ghetto passiert war. Am 9. und 12. Oktober hatte die SS die Ghettoinsassen nach Treblinka deportiert. Das geheimnisvolle Wort Aktion erwies sich als Teil des Kryptonyms „Aktion Reinhardt“, das heißt für den Befehl, alle Juden im Generalgouvernement zu ermorden.
So starben meine Eltern, mein ältester Bruder, seine Frau und ihr vierjähriges Kind und meine Schwester mit einem dreijährigen Kind. Ihr Mann war schon früher als politischer Häftling in Auschwitz umgekommen; dort starben auch meine älteste Schwester, ihr Mann und ihre siebenjährige Tochter. Einen anderen erwachsenen Bruder, der sich in Warschau auf die arische Seite gerettet hatte, erschoß die Gestapo im Herbst 1943 in den Ruinen des Warschauer Gettos. Ein polnischer Schulkamerad, dem er auf der Straße begegnet war, hatte ihn denunziert. Die Niedertracht der einen machte den Heldenmut der anderen zunichte.
Auch Wanda hütete das Geheimnis vom Tod meiner Nächsten. Sie kümmerte sich um mein seelisches Gleichgewicht, meine Erziehung und meine Lektüre – die polnische Untergrundpresse eingeschlossen. Mit Schulbüchern aus der Vorkriegszeit holte ich selbst oder mit ihrer Hilfe das versäumte Lernpensum nach. Ich verbrachte viel Zeit in der Stadt; denn Wanda meinte zu Recht, das ließe Nachbarn erst gar keinen Verdacht schöpfen. Den Aufstand im Warschauer Getto beobachtete ich mit zusammengebissenen Zähnen von der polnischen Seite der Mauer aus.
Den Krieg überstanden wir hungernd in gemeinsam geteilter Armut. Mehrmals war ich dem Tod nur um Haaresbreite entgangen. Gerettet hatte mich vor allem eine Kette von mutigen Polen wie Wanda, wie Alex, der Arbeiter, der mich aus Radomsko nach Warschau brachte, wie die Kollegen meines Schwagers oder viele andere mehr.
Als Yad Vashem 1963 eine Medaille für all jene stiftete, die Juden während des Holocaust gerettet hatten, konnte ich meine Ziehmutter lange nicht dazu bewegen, die Auszeichnung anzunehmen. Ihrer Ansicht nach hatte sie nur das getan, was jeder anständige Mensch hätte tun sollen.
Erst nach dem Krieg konnte ich -– wie alle anderen Überlebenden auch – das wahre Ausmaß der Katastrophe erkennen. Wer überlebt hatte, stand vor der schwierigen Entscheidung, was er mit seinem Leben wo beginnen sollte und auch, ob er in Polen bleiben sollte.
Der klägliche Rest der polnischen Juden, der in deutschen Konzentrationslagern, bei Sklavenarbeit, bei den Partisanen, in Bunkern im Wald, in Verstecken oder mit einer Notidentität überlebt hatte, lenkte größtenteils die ersten Schritte in die Heimat; hauptsächlich, um festzustellen, ob jemand aus der Familie überlebt hatte, mitunter auch in der Hoffnung auf eine Rückkehr ins eigene Haus oder auf die Rückgabe von Hab und Gut, das man notgedrungen bei nicht jüdischen Nachbarn hinterlassen hatte. Im Allgemeinen erfuhren sie, daß niemand von ihren Angehörigen mehr lebte, und selten empfingen ihre alten Nachbarn sie mit offenen Armen. In der Regel waren diese unangenehm überrascht, daß jemand zurückkehrte, und in kleineren Städten oder Dörfern endete das nicht selten mit einem Meuchelmord, um fremdes Eigentum nicht zurückgeben zu müssen.
Die Walze des Holocaust hatte ihre unverkennbaren Spuren hinterlassen. Die moralischen Normen großer Bevölkerungsgruppen waren zusammengebrochen. Besonders sichtbar war dies dort, wo Juden im Beisein der christlichen Ortsbevölkerung erschossen oder deportiert wurden – was in den Kleinstädten und Dörfern die Regel war. Alle Polen wussten, daß die SS die Juden in den Tod schickte.
Selbst im deutsch besetzten Polen, wo auch die polnische Bevölkerung insgesamt gewaltige Verluste an Leib und Leben erlitt, machte sie örtlich die Jagd auf Juden mit. Im Sommer 1941 fand in einer Region, die kurz zuvor noch sowjetisch besetzt gewesen war, der erste Massenmord an polnischen Juden statt. Gestapo und Einsatzgruppen hatten ihn angeregt, aber ausgeführt hatten ihn polnische Nachbarn der Opfer. Ich spreche von der Serie blutiger Pogrome in der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne und über 30 umliegenden Ortschaften. In Polen haben etwa 200.000 Menschen unter Einsatz ihres Lebens mindestens 40.000 Juden gerettet. Aber gleichzeitig fanden sich Menschen, die Juden, welche sich versteckt hatten, denunzierten oder der Polizei übergaben.
Der Holocaust hat in Teilen der Bevölkerung die niedrigsten Instinkte freigesetzt und sie in der Überzeugung bestärkt, daß man Juden immer ungestraft ermorden könne. In Polen, in Ungarn und der Slowakei fanden nach dem Krieg Pogrome statt, in denen Überlebende des Holocaust zu dessen verspäteten Opfern wurden. In ihren Dimensionen sind diese Vorfälle selbstverständlich nicht mit den Massenmorden der Nazis zu vergleichen. Allein die Tatsache, daß so etwas nach dem Holocaust geschehen konnte, löste einen Schock und Panik aus. Aus Polen emigrierten zwischen 1945 und 1950 die meisten Juden.
Die Jahrzehnte lang tabuisierten oder beschwiegenen Fragen, die sich aus den langfristigen Folgen des Zweiten Weltkriegs und den kranken polnisch-jüdischen Beziehungen ergaben haben mich schließlich vor drei Jahren dazu veranlasst, im Jüdischen Historischen Institut Warschau hierzu ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu beginnen. Ich bin glücklich, daß ich hierfür unter der mittleren und jungen polnischen Forschergeneration 28 Partnerinnen und Partner an fünf polnischen Universitäten und vier renommierten Forschungsinstituten gefunden habe. Unsere Ergebnisse werden noch in diesem Jahr in einer polnisch- und englischsprachigen Druckfassung erscheinen.
In den ersten 50 Jahren nach dem Holocaust wurde dieser in Europa fast ausschließlich als deutscher Völkermord wahrgenommen, was für eine Reihe von Ländern sehr bequem war. Dort wurde das Thema Jahrzehnte lang freiwillig tabuisiert oder marginalisiert. Keine staatliche Zensur war nötig. Seit den 1990er Jahren wird dieser Unschuldsmythos in der historischen Forschung zunehmend in Frage gestellt. Als die Holocaustforschung intensiviert wurde, stand aber weiterhin eine ganze Armee von Hofhistorikern zur Verteidigung der „nationalen Ehre“ bereit. Inzwischen sehen immer mehr Historiker das Beschweigen – bisher ein probates Mittel zur Geschichtsfälschung – als unvereinbar mit ihrem Berufsethos an und präsentieren auch bittere Wahrheiten über die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte.
Eine integrierte Sichtweise auf den Holocaust, die auch seine Nachkriegsfolgen mit einbezieht, hat immer noch so gut wie keinen Anklang gefunden. In vielen Holocaustmuseen brechen die Ausstellungen in der Regel mit Fotos von befreiten Lagern, von Leichenbergen und menschlichen Skeletten ab. Das Äußerste ist noch der Nürnberger Prozess. Und damit glaubt man, die Sache erledigt zu haben. Denselben Vorwurf muss man auch vielen Schulbuchautoren machen.
Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß fast in jedem europäischen Land, in dem die nationalsozialistischen Deutschen ihr Projekt zur Ausrottung der Juden verwirklichten, ein Teil der einheimischen Bevölkerung so oder anders in den Völkermord verwickelt war: sei es als Retter, als Täter, Denunzianten, als den Tätern geneigte Zuschauer oder sei es nur als Profiteure, die sich selbst die Hände nicht schmutzig machten, und vor allem als Gleichgültige. Ich meine hier die Sünde der Unterlassung. Außer auf das Dritte Reich traf das in sehr unterschiedlichem Maße auf mindestens 13 europäische Länder zu: auf sechs verbündete und sieben besetzte. Im verbündeten Rumänien, wo die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ermordet wurde, geschah das mit vereinten Kräften von Rumänen, Deutschen, Ukrainern und Ungarn. Die Bulgaren opferten nur die Juden aus ihren Besatzungsgebieten in Thrakien, Mazedonien und im Kosovo. In Ungarn wurden Juden zunächst in eigener Regie ermordet, doch die größte Opfergruppe von über 434.000 Menschen schickte man in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Dorthin deportierten auch Italien, die Slowakei, Norwegen und andere Länder ihre jüdischen Staatsbürger.
Diese Kooperation des Dritten Reichs mit seinen Verbündeten und der willfährigen Polizei in den meisten besetzten Ländern war charakteristisch für das deutsche Völkermord-Projekt. Die Polizei in Frankreich, Holland oder Belgien stellte auf deutschen Befehl die Transporte in die Todeslager zusammen, die von der SS gebaut und verwaltet wurden. In anderen besetzten Ländern, wie in Litauen, Lettland, Estland oder der Ukraine wurden die Juden nicht allein von Einsatzgruppen ermordet, sondern auch von Freiwilligen-Milizen der Ortsbevölkerung. Aus dem Baltikum und der Ukraine kamen auch die Hilfswilligen, die der SS bei der Deportation aus den Ghettos im besetzten Polen halfen. Viele dieser Helfershelfer dienten in allen Vernichtungszentren im Generalgouvernement. In Bełżec, Sobibór und Treblinka überstieg ihre Anzahl die der SS-Lagerbesatzung um ein Vielfaches.
Nichts kann das Dritte Reich von der Verantwortung für den Holocaust freisprechen, dem die Nürnberger Gesetze den Weg bahnten. Aber es gibt auch keinen Grund, die Regierungen Ungarns, Rumäniens, der Slowakei, Bulgariens oder Kroatiens, die diese Gesetze nachahmten, in einer integrierten Erzählung über den Holocaust auszusparen.
Die Rezeption des Holocaust, mit dem ein moralischer Gattungsbruch vorliegt, bleibt solange verzerrt und unvollständig, solange eine europäische Komplizenschaft beim deutschen Staatsverbrechen, das hier in Berlin geplant und von hier aus gelenkt wurde, nicht Bestandteil des europäischen historischen Bewußtseins ist.
Der polnische Historiker Professor Dr. Feliks Tych, Jahrgangs 1929, war am 27. Januar 2010, Gastredner in einer Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus.
Schlagwörter: Feliks Tych, Ghetto, Holocaust, Polen, Shoa, Zweiter Weltkrieg