von Uri Avnery, Tel Aviv
Es ist schon banal zu sagen, daß Leute, die aus der Geschichte nichts gelernt haben, verurteilt sind, ihre Fehler zu wiederholen. Vor etwa 1942 Jahren begannen die Juden in der Provinz mit Namen Palästina eine Revolte gegen das Römische Reich. Nach drei Jahren wurden die Rebellen geschlagen, Jerusalem fiel, und der Tempel brannte ab. Die letzten Zeloten begingen in Masada Selbstmord. Die Zionisten versuchten tatsächlich, aus der Geschichte zu lernen. Sie handelten in vernünftiger Weise, provozierten die Großmächte nicht, bemühten sich in jeder Situation, das zu erreichen, was möglich war. Sie akzeptierten Kompromisse, und jeder Kompromiss diente als Grundlage für den nächsten Schritt nach vorne. Sie benützten klug die radikale Einstellung ihrer Gegner und gewannen so die Sympathie der ganzen Welt Aber seit Beginn der Besatzung verdunkelte sich ihr Verstand. Der Kult von Masada herrschte wieder vor. Göttliche Versprechen begannen wieder, im öffentlichen Diskurs eine Rolle zu spielen. Große Teile der Bevölkerung folgten den neuen Zeloten.
Auch die nächste Phase wiederholte sich: die Führer Israels begannen eine Rebellion gegen das neue Rom. Was wie eine Beleidigung des Vizepräsidenten der USA begann, entwickelte sich zu etwas weit Größerem. Die Maus hat einen Elefanten geboren. In letzter Zeit hat die ultrarechte Regierung in Jerusalem angefangen, Präsident Barack Obama mit kaum verhohlener Verachtung zu behandeln. Die Ängste, die zu Beginn seiner Amtsperiode aufkamen, zerstreuten sich. Obama erscheint wie ein schwarzer Papierpanther. Er gab seine Forderung auf, den Siedlungsbau einzufrieren. Doch jetzt – scheinbar ganz plötzlich – ist das Maß voll. Obama, sein Vizepräsident und seine ranghohen Assistenten verurteilten die Netanyahu-Regierung mit wachsender Schärfe. Die Außenministerin Hillary Clinton hat ein Ultimatum gestellt: Netanyahu muß alle Siedlungsaktivitäten einstellen, auch in Ost-Jerusalem; er muß sich einverstanden erklären, über alle Kernprobleme zu verhandeln, einschließlich Ost-Jerusalems und mehr. Die Überraschung war komplett. Obama hat offensichtlich den Rubikon überschritten. Netanyahu gab den Befehl, alle Reserven in Amerika zu mobilisieren und sämtliche diplomatischen Panzer in Bewegung zu setzen. Alle jüdischen Organisationen in den USA wurden aufgerufen, sich der Kampagne anzuschließen. AIPAC blies das Schofarhorn und befahl all seinen Soldaten, den Senatoren und Kongreßleuten, das Weiße Haus zu stürmen.
Es scheint, als hätte die entscheidende Schlacht begonnen. Die israelischen Führer waren sich sicher, daß Obama besiegt werden würde. Und dann wurde ein ungewöhnliches Geräusch vernommen: das Geräusch der Waffe des Jüngsten Tages. Der Mann, der entschied, sie zu aktivieren, war ein Feind neuer Art. David Petraeus ist der bekannteste Offizier der US-Armee. Im Irak machte sich der Vier-Sterne-General einen Namen, als er die Armee in Mossul, der problematischsten Stadt im Lande, kommandierte. Um die Feinde der USA zu bezwingen, erkannte er, muß man die Herzen der zivilen Bevölkerung gewinnen, lokale Verbündete erwerben, und mehr Geld als Munition verbrauchen. Die Einheimischen nannten ihn König David. Sein Erfolg wurde als so hervorragend angesehen, daß seine Methode als die offizielle Doktrin der amerikanischen Armee angenommen wurde.
Petraeus machte schnell Karriere. Er wurde zum Chef der Koalitionskräfte im Irak ernannt, und bald wurde er Chef des Zentralkommandos der US-Armee, die den ganzen Nahen Osten einschloß – außer Israel und Palästina (die zum amerikanischen Kommando in Europa „gehören“). Wenn solch eine Person ihre Stimme erhebt, hören die Amerikaner zu. Als geachteter Militärdenker hat er keinen Rivalen. Vor zwei Wochen übermittelte Petraeus eine unmißverständliche Botschaft: Nach genauer Überprüfung der Probleme in seinem Verantwortungsgebiet (AOR) – das u.a. Afghanistan, Pakistan, den Iran, Irak und den Jemen einschließt – wandte er sich dem zu, was er „Wurzeln der Instabilität“ in der Region nannte. Als erstes auf dieser Liste stand der israelisch-palästinensische Konflikt.
In seinem Bericht für das Komitee der Streitkräfte erklärte er: „Die anhaltenden Feindseligkeiten zwischen Israel und einigen seiner Nachbarn stellen besondere Herausforderungen an unsere Fähigkeit, unsere Interessen in den AOR voranzubringen. Der Konflikt schürt antiamerikanische Gefühle auf Grund der Wahrnehmung, daß die USA Israel bevorzugt unterstützt. Arabischer Zorn über die palästinensische Frage beeinträchtige die Stärke der USA-Partnerschaft mit Regierungen und Völkern in der AOR und schwäche die Legitimität der moderaten Regime in der arabischen Welt. Mittlerweile nützen Al-Qaida und andere militante Gruppen diesen Zorn aus, um Unterstützung zu mobilisieren. Dieser Konflikt gibt auch dem Iran durch seine Klientel, – die libanesische Hisbollah und die Hamas – Einfluß auf die arabische Welt.“
Mit andern Worten: Der israelisch-palästinensische Frieden ist keine private Angelegenheit von zwei Parteien, sondern im großen nationalen Interesse der USA. Das bedeutet, daß die USA ihre einseitige Unterstützung für die israelische Regierung aufgeben und die Zwei-Staaten-Lösung aufzwingen muß. Das Argument als solches ist nicht neu. Mehrere Experten haben in der Vergangenheit mehr oder weniger dasselbe gesagt. Aber jetzt wird es in einem offiziellen Dokument festgelegt, das vom verantwortlichen amerikanischen Kommandeur geschrieben wurde.
Die Netanyahu-Regierung ging sofort in Verteidigungsstellung. Ihre Sprecher erklärten, daß Petraeus eine enge militärische Perspektive habe, daß er politische Angelegenheiten nicht verstünde, daß seine Argumentation fehlerhaft sei. Aber es ist nicht das, was die Menschen in Jerusalem in kalten Schweiß ausbrechen läßt. Wie wohl bekannt ist, beherrscht die Pro-Israel-Lobby (AIPAC) die amerikanische politische Szene grenzenlos – beinahe. Jeder amerikanische Politiker und ranghohe Beamter hat zutiefst Angst vor ihr. Die geringfügigste Abweichung von der strengen AIPAC-Linie kommt politischem Selbstmord gleich.
Aber in der Rüstung dieses politischen Goliath gibt es einen Riss. Wie die Achillesferse hat die immense Macht der Pro-Israel-Lobby eine verwundbare Stelle, die – wenn sie berührt wird – diese entmachtet. Das wurde bei der Jonathan-Pollard-Affäre deutlich. Dieser amerikanisch-jüdische Angestellte eines sensiblen Nachrichtendienstes spionierte für Israel. Die Israelis betrachten ihn als Nationalhelden, als einen Juden, der für sein Volk seine Pflicht getan hat. Aber für die US-Nachrichtendienste ist er ein Verräter, der das Leben vieler amerikanischer Agenten gefährdete. Das Gericht verhängte ihm eine Gefängnisstrafe auf Lebenszeit. Seitdem haben alle amerikanischen Präsidenten die Bitten aller israelischer Regierungen, die Strafe abzumildern, zurückgewiesen. Kein Präsident wagt in dieser Sache, sich mit seinen Geheimdienstchefs anzulegen.
Die bedeutendste Seite dieser Affäre erinnert an die berühmten Worte von Sherlock Holmes über die Hunde, die nicht bellen. AIPAC bellte nicht. Die ganze amerikanisch-jüdische Gemeinde schwieg. Fast keiner hat sich für den armen Pollard eingesetzt. Warum? Weil die meisten amerikanischen Juden bereit sind, alles – einfach alles – für die Regierung in Israel zu machen. Mit einer Ausnahme: Sie werden nichts tun, das so aussieht, als ob sie die Sicherheit der USA schädigen. Wenn die Flagge der Sicherheit gehißt wird, stehen die Juden wie alle Amerikaner stramm und salutieren. Das Damoklesschwert des Verdachtes von Illoyalität schwebt dann über ihren Köpfen. Für sie ist es der schlimmste Alptraum: angeklagt zu werden, weil ihnen die Sicherheit Israels wichtiger ist als die der USA. Deshalb ist es für sie wichtig, unaufhörlich das Mantra zu wiederholen, daß für sie die Interessen Israels und die der USA identisch sind.
Und nun kommt der wichtigste General der US-Armee und sagt, daß dem nicht so sei. Die Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung gefährde das Leben der amerikanischen Soldaten im Irak und Afghanistan. Bis jetzt ist dies nur als Nebenbemerkung in einem militärischen Dokument gesagt worden, das noch keine weite Verbreitung gefunden hat. Aber das Schwert ist aus seiner Scheide gezogen worden – und amerikanische Juden haben beim entfernten Grollen eines nahenden Erdbebens zu zittern angefangen. In der vergangenen Woche hat Netanyahus Schwager unsere eigene Waffe des Jüngsten Tages angewandt. Er erklärte, Obama sei ein „Antisemit“. Die offizielle Zeitung der Shas-Partei behauptete, Obama sei in Wirklichkeit ein Muslim. Sie vertreten die radikale Rechte und ihre Partner, die in Rede und Schrift behaupten, „Hussein“ Obama sei ein die Juden hassender Schwarzer, der bei den nächsten Kongress- und dann bei den Präsidentenwahlen geschlagen werden müsse. Eine aktuelle Umfrage in Israel indes zeigt, daß die hiesige Öffentlichkeit weit von solchen Ansichten entfernt ist. Die große Mehrheit glaubt, Obamas Behandlung Israels sei fair. Obama bekam sogar eine höhere Punktzahl als Netanyahu.
Wenn Obama entscheidet, zurückzuschlagen und seine Waffe des Jüngsten Tages zu aktivieren: die Anklage, Israel sei ein Risiko für das Leben amerikanischer Soldaten, dann könnte dies katastrophale Folgen für Israel haben. Für den Augenblick ist dies nur ein Schuß vor den Bug – ein Warnschuß, der von einem Kriegsschiff abgefeuert wird, um ein anderes Schiff zu veranlassen, seinen Instruktionen zu folgen. Die Warnung ist klar. Selbst wenn die gegenwärtige Krise irgendwie zugedeckt wird, wird sie unvermeidlich immer wieder aufflackern, solange die gegenwärtige Koalition in Israel an der Macht bleibt.
Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs, redaktionell gekürzt.
Schlagwörter: AIPAC, Barack Obama, Benyamin Netanyahu, David Petraeus, Israel, Jonathan Pollard, Palästina, Uri Avnery