von Wolfgang Brauer
„Neue Kunst ist wahre Kunst“ lautete das Motto des diesjährigen, nunmehr 18. Kurt-Weill-Festes Dessau. Auf den in grellem Orange schreienden Plakaten stand’s Englisch: „New Art is True Art“. Die Festival-Organisatoren entnahmen die Zeile einem Song des Weill-Musicals „One Touch of Venus“ aus dem Jahre 1943. Das seinerzeitige Erfolgsstück hatte im Rahmen des Kurt-Weill-Festes am 5. März im Anhaltischen Theater unter der Regie von Klaus Seifert Premiere. Diese publikumsgefällige musikalische „Untersuchung über die Aspekte amerikanischen Liebeslebens“, so das Programmheft, fügte sich wunderbar ein in die Konzeption einer Veranstaltung, die den ideologisch aufgeladenen Diskurs zwischen U- und E-Musik zumindest einmal im Jahr lächelnden Gesichts in die Rumpelkammer kulturpolitischer Absurditäten verweist. Das lohnt seit Jahren die Fahrt in die Stadt an der Mulde. Wer sich über eine entpolitisierte „Mahagonny“-Inszenierung an der Komischen Oper Berlin ärgerte, konnte sicher sein, in Dessau wieder wie im Jahre 2006 zum Geist des Werkes zurückzufinden.
Sieht man vom Zufall ab, daß Kurt Weill hier am 2. März 1900 geboren wurde, so bietet Dessau-Roßlau (2007 wurden beide Städte fusioniert; sie waren es von 1935 bis 1946 schon einmal, man wollte Gauhauptstadt sein und brauchte dazu mindestens 100 000 Einwohner) auf eine einmalige Weise den Hintergrund zur Auseinandersetzung mit einem kompositorischen Werk, das wie nur wenige Größe und Elend des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Der rasante Aufstieg des verträumten Residenzstädtchens und Zentrums eines idealischen Gartenreiches zu einer industriellen Boomtown des Deutschen Reiches, dank Hugo Junkers und der Bauhäusler um Walter Gropius und Hannes Meyer wurde die Stadt zu einem der Geburtsorte der europäischen Moderne, endete schließlich im Zustande einer der wichtigsten Rüstungsschmieden der Faschisten. Auch das fürchterliche Zyklon B war ein hiesiges Produkt. Die Zeche zahlte die Stadt in Gestalt von 20 Bombenangriffen in den Jahren von 1940 bis 1945. Am schlimmsten sollte der vom 7. März 1945 werden: 80 Prozent des Stadtgebietes lagen danach in Schutt und Asche.
Wie viele andere deutsche Städte ist auch Dessau bis zum heutigen Tag von diesen Wunden gezeichnet. Die sind nicht nur baulicher Natur. Und wie offen diese immer noch sind, zeigt sich auch daran, daß das „Technik-Museum Hugo Junkers“ in seiner Dauerausstellung darauf aufmerksam machen muß, daß es mitnichten die Verherrlichung nazistischen Ingenieurgeistes zum Ziele habe. Es zeigt sich darin, daß Dessau-Roßlau zum beliebten Aufmarschplatz der NPD zu mutieren droht. Wie in Dresden nimmt auch hier diese noch immer nicht verbotene Partei die jährliche Wiederkehr der Zerstörung der Stadt zum Anlaß – unterstützt vom Kreisverband des Bundes der Vertriebenen, so jedenfalls die einschlägige NPD-Webside – um ihren braunen Ungeist auf den Straßen zu präsentieren und wankelmütige Seelen zu fischen. Von denen gibt es in dieser abgewickelten Industrieregion Sachsen-Anhalts mehr als genug.
„Offene Wunden“ hieß denn auch die Eröffnungsveranstaltung des Kurt-Weill-Festes am 26. Februar, gestaltet vom Ensemble Modern aus Frankfurt/Main. Neben dem Brecht/Weill’schen „Mahagonny-Songspiel“ (1927) bot es die Uraufführung des „Kleinen epischen Songspiels ‚Die WUNDE Heine’“ des Berliner Komponisten Helmut Oehring (geb. 1961) und der Autorin Stefanie Wördemann (geb. 1974). So überraschend im ersten Moment die Kontextualisierung Heinescher Dichtung zu Brecht und Weill auch erscheinen mag, sie ist angesichts der von beiden verhandelten zivilisatorischen Bedrohungen logisch und geradezu zwingend. Inwieweit die komplexe Formensprache heutigen Komponierens und Textens vom breiten Publikum angenommen wird, steht indes auf einem anderen Blatt. Am 28. Februar verließ während des Konzertes des MDR-Sinfonieorchesters ein gutes Fünftel des Publikums das Anhaltische Theater. Nach der Pause sollte Kurt Weills opus 16, die Kantate „Der neue Orpheus“, gegeben werden. Davor stand Gershwins „Amerikaner in Paris“ auf dem Programm. Die Leute wollten das Liebgewonnene, das Bekannte hören, und ein Ohrwurm ist Weills Kantate nicht.
Sorgen muß man sich allerdings um das Weill-Fest machen. Der neue Intendant Michael Kaufmann, bis zum Sommer vergangenen Jahres leitete er die Essener Philharmonie, möchte es im nächsten Jahr auf drei Wochen verlängern – wegen der dann drei tourismusfreundlichen Wochenenden. Kaufmann ist Kaufmann, heute heißt das „Kulturmanager“. Da scheint das logisch. Das diesjährige Fest war zu 90 Prozent ausgelastet. Das nächste Programm soll zudem dem breiteren Geschmack angepasster daherkommen: „In den kommenden drei Jahren werden wir die Lebens-Arbeits-Stationen von Kurt Weill nachzeichnen, auch um Zeitporträts zu machen“, so Kaufmann am 7. März gegenüber dpa. Man wird also in den nächsten drei Jahren Berlin, Paris und New York an der Mulde in Form von „Zeitporträts“ (was auch immer das sein mag) erleben können. Uraufführungen von Auftragsproduktionen werde es nur noch eine pro Jahr geben. Man geht also auch in Dessau-Roßlau den Weg der Eventisierung. Grinst da schon die Witwe Begbick aus den Kulissen eines mahagonnysierten Festivals?
Die zweite Uraufführung war neben dem erwähnten Werk Helmut Oehrings das „Dreigroscherlnstück“ von Franzobel in der Vertonung von Moritz Eggert. In dessen Dekoration gab es am Premierenvorabend (nicht als Bestandteil des offiziellen Programms) eine Podiumsdiskussion der leitenden Kulturmanager Dessau-Roßlaus mit dem Oberbürgermeister Clemens Koschig. Es ging nicht um die hehre Kunst, der Hintergrund war banaler. Noch im November vergangenen Jahres lobte Jens Bisky in der „Süddeutschen Zeitung“ etwas vorschnell die beispielhafte Politik der Stadt. Sie gebe immerhin 12,5 Prozent ihres Etats (also 20 Millionen Euro) für die Kultur aus. Am 9. Februar, also wenige Tage vor der Eröffnung des diesjährigen Weill-Festes, beschloß der Stadtrat jedoch insgesamt 83 „Prüfaufträge“, um künftig 13,5 Millionen Euro einzusparen. Die Stadt stehe perspektivisch am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Die „Mitteldeutsche Zeitung“ faßte die Streichliste, um eine solche handelt es sich, am 12. Februar zusammen: „Es geht um das Anhaltische Theater und das Waldbad, die Südschwimmhalle, das Naturkundemuseum und den Tierpark. Es geht um Zuschüsse für Sportvereine und Veranstaltungen. Es geht um die Schließung von Sportstätten und Bürgerbüros.“
Beim Theater geht es beispielsweise um die Halbierung der städtischen Zuschüsse von jetzt sieben auf dann 3,5 Millionen Euro. Acht Millionen kommen zur Zeit noch vom Land. Wie das reagieren wird, ist offen. Das erfolgreiche Vier-Sparten-Theater Dessaus wäre jedenfalls nicht mehr zu halten. Intendant André Bücker spitzte die Frage jüngst zu: Wolle Dessau-Roßlau denn nun „Bauhausstadt oder Geisterstadt“ werden? Die „Abstimmung mit den Füßen“ signalisiert Letzteres. Dessau-Roßlau hatte 1990 ca. 118 000 Einwohner, zum Zeitpunkt der Städtefusion 2007 waren es dann 90507, Ende 2008 zählte die Stadt 88 693 Einwohner. Mittlerweile wird großflächig abgerissen, nicht nur ehemalige Industrieareale liegen brach.
Zumindest für lokalpatriotische Roßlauer ist Bückers Frage übrigens beantwortet: Sie betrachten sich als Bürger der „Schifferstadt Roßlau“. Es gab auf der Elbe wirklich einmal nennenswerten, auch in Roßlau beheimateten Schiffsverkehr und einen Betrieb, der zwar noch „Schiffswerft Roßlau“ heißt, aber mit Schiffbau nur noch sehr wenig zu tun hat. In einer seiner Produktionshallen trällerten in diesem Jahre nun die „Berlin Comedian Harmonists“ die fröhlichen Liedchen ihrer großen Vorbilder aus den dreißiger Jahren, mit denen diese – wie wir heute wissen vergeblich – versuchten gegen die Große Krise anzusingen. Der Ort ihres Auftrittes zeigte es überdeutlich: Die Wunden sind wieder offen, abgeschlossen ist da nichts.
Die erwähnte Podiumsdiskussion brachte übrigens kein sinnvolles Ergebnis. Am 25. Februar hingegen hatte OB Koschig die Mitarbeiter der Stadtverwaltung brieflich wissen lassen, daß er „weder den Ort noch den Zeitpunkt für eine … Protestaktion als besonders glücklich gewählt“ betrachte. Zudem: „Welchen Eindruck wollen wir denn der Weltöffentlichkeit präsentieren?“ Die Dessauer Kulturszene und andere von den „Prüfaufträgen“ Betroffene hatten zur Eröffnung des Weill-Festes zu einer Protestkundgebung vor dem Theater aufgerufen. Ehrengast der Eröffnungsveranstaltung war auch Ministerpräsident Böhmer. Dessen Kabinett ist nicht ganz schuldlos an der Dessauer Finanzmisere. Koschig selbst kommt vom „Neuen Forum“. Aber das ist lange her. Das von ihm beschworene Wir-Gefühl, sollte es das je gegeben haben, ist auch in der Mulde-Stadt nur noch hohle Phrase.
„One Touch of Venus“ läuft in dieser Spielzeit am Anhaltischen Theater noch am 19.3., 8.4. und 9.5. 2010 (www.anhaltisches-theater.de)
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