von Wolfgang Schwarz
Gesamtdarstellungen über Entstehung, Geschichte, Verbrechen und Untergang des Dritten Reiches sind – trotz einer unüberschaubaren Fülle an Literatur zu diesem Gegenstand – eher rar, und das gilt erst recht für solche, die sich an Leserinnen und Leser wenden, „die nichts oder nur wenig über das Thema wissen und gerne mehr erfahren möchten“. Mit dieser Intention verfaßte der britische Historiker Richard J. Evans seine Geschichte des Dritten Reiches, nach deren ersten zwei Bänden „Aufstieg“ und „Diktatur“ nunmehr auch der abschließende dritte Teil – „Krieg“ – in deutscher Übersetzung vorliegt.
Dieser Band umfaßt die Zeit vom deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 bis zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 – also den Zweiten Weltkrieg, soweit er sich auf europäischem (und afrikanischem) Boden abgespielt hat. Evans beschränkt sich dabei nicht auf die militärhistorischen Aspekte, sondern liefert zugleich ein facettenreiches Bild von deren Wechselwirkungen mit Gesellschaft, Wirtschaft und selbst Kunst und Kultur des Dritten Reiches. Daß er dabei neben „offiziellen“ historischen Quellen auch Zeitzeugen-Äußerungen – Tagebücher, Briefe u.a.m. – einbezieht, bereichert die Darstellung sehr.
Herausragender Schwerpunkt dieses dritten Bandes sind die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und die Ausrottungspolitik, die auch gegenüber der nichtjüdischen Bevölkerung insbesondere Polens und der Sowjetunion betrieben wurde. Evans weist dabei nach, daß die deutsche Kriegsführung bereits vom Beginn des Überfalls auf Polen an eine Kombination von Eroberungs-, Rassen- und Vernichtungskrieg war und daß die deutsche Besatzungspolitik dem ebenfalls vom Anbeginn an entsprach. „Fast alles, was sich bei der Invasion der Sowjetunion ab Juni 1941 ereignen sollte, war bereits in kleinem Maßstab während der Invasion Polens … erprobt worden.“ Evans führt darüber hinaus auch den Nachweis, daß die damit verbundenen Verbrechen zu keinem Zeitpunkt Sache der SS allein waren. „Von Anfang an waren NSDAP-Funktionäre, SA-Leute, Zivilbeamte und vor allem niedere Offiziere und einfache Soldaten beteiligt …“
Im Hinblick auf den unmittelbaren Kriegsverlauf konzentriert sich Evans auf entscheidende Wegmarken: die Eroberung und Zerschlagung Polens und Frankreichs, die Luftschlacht um und die gescheiterte Invasion in England, die Kämpfe vor Moskau im Winter 1941/42, die Schlacht um Stalingrad im darauf folgenden Winter sowie die strategischen anglo-amerikanischen Luftangriffe auf Deutschland ab 1943. Die Ereignisse um England, Moskau und insbesondere Stalingrad markiert der Autor dabei als Wendepunkte des Kriegsverlaufes, denen maßgebliche Bedeutung für die schlußendliche deutsche Niederlage zukommt.
Die Konzentration auf militärhistorische Schwerpunkte hindert den Autor zugleich nicht daran, auch über andere Aspekte des Kriegsgeschehens sehr konzentriert und informativ zu berichten – das betrifft zum Beispiel die deutschen Invasionen Dänemarks und Norwegens sowie auf dem Balkan ebenso wie die Kämpfe in Nordafrika oder die Endphase des Krieges nach Eröffnung der Zweiten Front im Juni 1944 und den Vormarsch der Roten Armee nach Berlin. Dabei gelingen dem Autor, der die Sprache nicht weniger beherrscht wie das Handwerkszeug des Historikers, immer wieder beeindruckende Schilderungen – wie im Fall der Schlacht am Kursker Bogen vom Sommer 1943, der größten Panzerschlacht der Kriegsgeschichte, die zugleich die letzte Großoffensive der deutschen Wehrmacht gegen die Rote Armee war. Wer diese Schlacht, die vor allem dank überwältigender Überlegenheit an Menschen und Material sowjetischerseits gewonnen wurde, bisher nur aus sowjetischer Darstellung kennt – etwa aus dem beeindruckenden Filmepos „Befreiung“ – dem erweitert Evans den Blick über den zweifelsfreien Heroismus der sowjetischen Truppen hinaus. „Die Rote Armee, die in breiter Front vorrückte, anstatt dem klassischen Prinzip zu folgen, nach Möglichkeit durch die deutschen Linien zu stoßen und den Feind in einer Zangenbewegung einzukreisen, erlitt entsetzliche Verluste.“
1 677 000 Mann – gefallen, verwundet, vermißt – gegenüber 170 000 auf deutscher Seite. „Insgesamt verlor die Rote Armee im Juli und August 1943 fast 10 000 Panzer und Selbstfahrlafetten, die Deutschen nur gut 1 300. Der verschwenderische Umgang Stalins und seiner Generäle mit dem Leben ihrer Männer war atemberaubend.“
Den anglo-amerikanischen Bombenkrieg gegen deutsches Territorium, dessen militärische Rechtfertigung und Wirksamkeit der Autor im Grundsatz zu recht nicht infrage stellt, beurteilt er gleichwohl differenziert und im Fazit kritisch. „Die Untergrabung der zivilen Moral und sogar das Üben von Rache an Deutschland und den Deutschen gehörten ohne Zweifel zu den Zielen der strategischen Bombenoffensive, auch wenn Angriffe auf Zivilisten üblicherweise als Kriegsverbrechen betrachtet worden sind.“ Man könne sich durchaus auf den Standpunkt stellen, daß der Bombenfeldzug besonders im letzten Kriegsjahr „in einer Weise geführt wurde, die zu wahllos war, als daß sie sich rechtfertigen ließe“. Evans schlägt den Bogen bis zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und meint, daß die Flächenbombardements deren Legitimität „bis zu einem gewissen Grad … ausgehöhlt“ hätten.
Volker Ullrich hat in seiner Rezension zu Evans Werk angemerkt, „dass dem Thema ’Widerstand’ nur ein relativ kurzes Unterkapitel gewidmet“ sei (DIE ZEIT, 10.12.2009). Das trifft zu, trägt aber letztlich nur dem Sachverhalt Rechnung, daß der innere deutsche Widerstand gegen das Nazi-Regime – egal aus welchen sozialen und politischen Quellen er sich speiste – leider eine Randerscheinung ohne nachhaltige Auswirkungen auf das Gesamtgeschehen blieb. Dem standen, wie Evans völlig zutreffend festhält, „Hunderttausende, ja Millionen von Deutschen, die der Sache des Nationalsozialismus ergeben waren“, gegenüber, darunter maßgebliche Teile „des deutschen Establishments einschließlich der Beamtenschaft, der freien Berufe und der Spitzen des Militärs … Ungeachtet ihrer Zweifel machten sie am Ende alle mit.“
Wahrscheinlich sind es nicht zuletzt diese Sachverhalte sowie das von Evans ebenfalls konstatierte Phänomen, daß sich die Deutschen, wo und wann immer sie schließlich von den alliierten Armeen überrannt wurden, „ihren Eroberern demütig (unterwarfen)“, die Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt noch heute sagen lassen: „Mein Vertrauen in die Kontinuität der deutschen Entwicklung ist nicht sonderlich groß. Die Deutschen bleiben eine verführbare Nation – in höherem Maße verführbar als andere.“ (Im Gespräch mit Fritz Stern, DIE ZEIT, 22.02.2010.)
Insgesamt bleibt festzuhalten, daß Richard Evans die anspruchsvolle Latte, die er sich mit seiner eingangs zitierten Intention selbst gelegt hatte, bravourös übersprungen hat. Dem Werk sind viele Leser, die wenig vom Dritten Reich wissen, aber mehr erfahren möchten, zu wünschen. Der Eingang in den Kanon der Standardwerke über die Geschichte der Dritten Reiches dürfte den drei Evansschen Bänden im übrigen schon jetzt nicht zu nehmen sein.
Richard J. Evans: Das Dritte Reich. Band III – Krieg. DVA, München, 1 151 Seiten, 49,95 Euro
Schlagwörter: Drittes Reich, Richard J. Evans, Wolfgang Schwarz, Zweiter Weltkrieg