13. Jahrgang | Nummer 4 | 1. März 2010

Wer zählt die Völker, nennt die Namen …

von Wladislaw Hedeler

Am 20. Juli 1937 war es vorbei mit der Gastlichkeit. Die Hetzjagd auf jene, die „von fernher gekommen und um ein wirtlich Dach gefleht“ hatten, setzte ein. Nicht im von Friedrich Schiller besungenen Akrokorinth, sondern in der Sowjetunion, auf der Insel im kapitalistischen Meer, wurde die Angst vor der fünften Kolonne geschürt. Der als Vater der Völker gepriesene Nachfolger Lenins ordnete im Politbüro des ZK der KPdSU(B) zunächst die Säuberung der Rüstungsbetriebe von Deutschen an.

Der auf dem Politbürobeschluß fußende NKWD-Befehl ist mit dem 25. Juli 1937 datiert. Fünf Tage später kamen die „sozial schädlichen Elemente“, Kulaken, Mitglieder nichtbolschewistischer Parteien und Verbrecher an die Reihe. Es dauerte nicht lange, bis dem NKWD die nächsten Feindkategorien vorgeschrieben wurden, dieses Mal handelte es sich um die „ausländischen Kontingente“.

Die aufeinanderfolgenden und sich zum Teil überlappenden Verhaftungswellen und Deportationen erfaßten Exilanten und Staatsbürger aller in den grenznahen Republiken und Gebieten der UdSSR ansässigen Nationalitäten. Zu den ersten Opfern im August 1937 gehörten die Polen und die Koreaner. Anfang September wurde ihre Umsiedlung beschlossen. Danach erfolgte die Verhaftung der ehemaligen Mitarbeiter und Angestellten der ostchinesischen Eisenbahn, Ende November 1937 waren die Letten an der Reihe, Anfang Januar 1938 die Iraner.

Ende Januar 1938 gestattete das Politbüro dem NKWD die Weiterführung der Repressalien gegen Bürger nichtrussischer Nationalität. Im Befehl war von Polen, Letten, Deutschen, Esten, Finnen, Griechen, Harbinern, Chinesen, Rumänen, Bulgaren und Mazedoniern die Rede. Die jeweiligen nationalen Operationen wurden bis zum 15. April 1938 verlängert.

Über diesen von der Parteiführung geplanten und vom NKWD durchgeführten Ausrottungsfeldzug in der Zeit des Großen Terrors sind in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen erschienen. Die Liste der in diesem Zusammenhang zu nennenden Dokumenten-Editionen und Studien ist lang.

Zu den Büchern über die nationalen Operationen gehört unter anderem Barry McLoughlins „Left to the Wolves Irish Victims of Stalinist Terror“ (Dublin: Irish Academic Press 2007). McLoughlin beschreibt am Beispiel dreier Biografien die Verfolgung von aus Irland stammenden Emigranten: Patrick Breslin, Brian Goold-Verschoyle und Seán McAteer.

Heute erinnern in Rußland Mahnmale an vorerst 265 Orten an die Opfer der Säuberungs-, Deportations- und Vernichtungskampagnen. Sie sind schlichter als die teilweise reopräsentativen und die gepflegten Grabstätten der Organisatoren des Großen Terrors aus der Partei und Staatsführung auf den Moskauer Prominentenfriedhöfen. Manchmal befinden sich die Grabstätten von Henkern unweit von denen ihrer Opfer. Zum Beispiel auf dem Donskoe-Friedhof, wo beispielsweise unweit der Ermordeten auch Wassili Blochin und Peter Jakowlew, Leiter beziehungsweise Mitglied eines Exekutionskommandos, liegen. Die Asche jener „Volkskommissare“, die – wie beispielsweise Jeshow oder Berija – selber in die Mühlen der Terrormaschinerie gerieten, wurde zusammen mit der ihrer Opfern auf dem Friedhofsgelände unweit des Krematoriums verstreut.

Dort, wo auf dem Donskoe Friedhof die Gedenktafeln im Halbkreis um das Grabfeld 3 angeordnet sind, ist es totenstill, und der Chor der Erinnyen ist längst verschwunden. Ihr Versprechen, die Mörder bis ins Reich der Schatten zu verfolgen und selbst dort nicht freizugeben, klingt nach.