13. Jahrgang | Nummer 3 | 15. Februar 2010

Schlechter Journalismus

von Robert Jensen, Austin/Texas

Anderson Cooper, Star-Moderator von CNN, berichtet live über eine chaotische Straßenszene in Port-au-Prince. Ein Junge wird von einem Stein am Kopf getroffen. Ein Plünderer hatte den Stein von einem Dach herunter geworfen. Cooper hilft dem Jungen, an den Straßenrand zu kommen. Dort stellt er fest, daß der Junge desorientiert und nicht mehr in der Lage ist, weiterzugehen. Cooper legt seine Digitalkamera weg (während ein anderer CNN-Kameramann weiterfilmt). Er trägt den Jungen fort und hievt ihn über eine Barrikade – in Sicherheit, wie wir hoffen. „Wir wissen nicht, was aus dem kleinen Jungen wurde“, sagt Cooper in seinem Bericht. „Alles, was wir wissen, ist, daß die Straßen von Haiti blutig sind.“

Das ist großes Fernsehen. Aber kein großer Journalismus. Im Grunde ist es unverantwortlicher Journalismus. Cooper setzt seinen Bericht fort, indem er darauf hinweist, daß es in Port-au-Prince nicht viele Plünderungen gegeben hat und die Gewalt, die die Zuschauer soeben sahen, wohl eher die Ausnahme sei. Stellt sich die Frage: Wenn diese Gewalt nicht repräsentativ ist, warum hat CNN sie überhaupt gezeigt? ( … )

Die TV-Nachrichtenberichterstattung geht immer wieder in die Falle: Dramatische, visuell ergreifende Storys werden durch Bildmaterial zusätzlich betont – auf Kosten wichtiger Informationen, die zwar etwas komplizierter sein mögen, aber eben entscheidend sind.

Wir hörten, wie immer wieder, endlos, daß Journalisten sagten, Haiti sei das ärmste Land in der westlichen Hemisphäre. Kam es denn keinem Redakteur in den Sinn, seine Reporter aufzufordern, nachzufragen, warum das so ist?

Die unmittelbare Not auf Haiti ist die Folge einer Naturkatastrophe, doch diesem Leid liegt eine weitere, zweihundertjährige, politische Katastrophe zugrunde. Ein erheblicher Teil der Verantwortung für diese Katastrophen liegt nicht (nur) bei den haitianischen Eliten sondern bei der US-Politik.

Manche Journalisten weisen darauf hin, daß die Gründung Haitis als unabhängiger Staat im Jahre 1804 auf einen Sklavenaufstand zurückging. En passant weisen sie darauf hin, daß die nachfolgenden „Kompensationsforderungen“ der Franzosen, die sie für ihr verlorenes Eigentum (sprich: Sklaven) erhoben, Haitis Wirtschaft mehr als ein Jahrhundert lang verkümmern ließen. Einige Journalisten weisen sogar darauf hin, daß Amerika die brutale Politik Frankreichs unterstützte und Haitis Unabhängigkeit nicht anerkannte, solange es selbst ein Sklavenstaat war. Erst mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg änderte sich dies. Hin und wieder wird auch auf die US-Invasion, unter dem „liberalen“ Präsidenten Woodrow Wilson, im Jahre 1915 und die anschließende Besatzung, die bis 1934 dauerte, hingewiesen. In den Jahrzehnten danach unterstützten Regierungen der USA nacheinander zwei brutale Diktaturen auf Haiti (den berüchtigten „Papa Doc“ Duvalier und danach dessen Sohn „Baby Doc“), die das Land von 1957 bis 1986 verheerten. Allerdings wird selten darüber diskutiert, was die damalige Politik mit den Problemen des heutigen Haiti zu tun haben könnte.

Noch offensichtlicher ist die fehlende Debatte über die Beziehungen zwischen Haiti und Amerika in jüngerer Zeit – vor allem, wenn es um die Unterstützung der USA für die beiden Staatsstreichs auf Haiti (1991 und 2004) geht. Beides Mal wurde der demokratisch gewählten Präsident Jean-Bertrand Aristide gestürzt. 1990 gewann Aristide mit erstaunlicher Mehrheit die Wahlen, denn er verlieh den Hoffnungen der Ärmsten auf Haiti eine Stimme. Sein populäres Wirtschaftsprogramm irritierte sowohl die Eliten Haitis als auch US-Politiker. Offiziell verurteilte die US-Regierung unter Bush I zwar den Militärputsch von 1991; stillschweigend unterstützte sie die Generäle jedoch bei diesem Vorhaben. Präsident Clinton unterstützte Aristides Rückkehr an die Macht in Haiti. Das war im Jahre 1994. Allerdings entschied sich Clinton erst zu dem Schritt, nachdem man Aristide gezwungen hatte, vor der wirtschaftsfreundlichen Politik, die die USA forderten, in die Knie zu gehen. Im Jahre 2000 gewann Aristide wieder die Wahl. Er setzte sein Engagement für die einfachen Menschen Haitis fort.

Die US-Regierung unter Bush II blockierte äußerst wichtige Kredite für die haitianische Regierung und unterstützte außerdem die brutalen, reaktionären Kräfte, die Aristides Partei angriffen. Diese Politik erreichte ihren traurigen Abschluß im Jahre 2004, als das US-Militär Aristide praktisch kidnappte und außer Landes flog. Heute lebt Jean-Bertrand Aristide in Südafrika. Die USA verhindern, daß er in sein Land zurückkehren kann, wo er noch immer viele Anhänger hat und beim Wiederaufbau helfen könnte.

Wie viele Zuschauer und Zuschauerinnen von Coopers CNN-Berichterstattung über Heldentum vor einem Massenpublikum wissen wohl, daß US-Politiker eine aktive Rolle bei der Unterminierung der haitianischen Demokratie gespielt haben und sich gegen die äußerst erfolgreiche politische Graswurzelbewegung, die es auf Haiti gibt, stellten? Während der ersten Tage der Berichterstattung über das Erdbeben auf Haiti konzentrierten sich die Nachrichtensender auf die aktuelle Krise. Verständlich. Aber welche Entschuldigungen haben diese Journalisten eine Woche später noch?

Sollten berühmte Fernseh-Gurus sich nicht hinstellen und von den USA verlangen, die Verantwortung für unseren Teil der Schuld an der aktuellen Situation zu übernehmen? Unsere Politiker äußern sich besorgt über die verelendeten Haitianer und bedauern die Abwesenheit einer kompetenten Regierung auf Haiti, die die Katastrophe managen könnte. Sollten unsere Journalisten daraufhin nicht fragen, weshalb diese Politiker das haitianische Volk in der Vergangenheit im Stich ließen? Bill Clinton und George W. Bush wurden berufen, die humanitären Bemühungen zu leiten. Sollten Journalisten ihnen nicht die offensichtliche – wenn auch unhöfliche – Frage stellen: Wie groß ist der Anteil dieser beiden ehemaligen US-Präsidenten an der Not der Haitianer?

Wenn Mainstream-Journalisten es wagen, die politische Vergangenheit zu erwähnen, reinigen sie sie normalerweise zunächst von häßlicheren Aspekten und sprechen die US-Politiker von jeder Schuld frei – wenn es um die „Schnittmenge“ der gemeinsamen Vergangenheit („star crossed relationship“) zwischen den beiden Nationen geht, wie es ein Reporter der Washington Post ausgedrückt hat. Wenn Nachrichtenreporter versuchen, Haitis Probleme als das Ergebnis einer hausgemachten „politischen Dysfunktion“ wegzurationalisieren, wie es jener Reporter der Washington Post getan hat, sind die Leser und Leserinnen nämlich eher bereit, die offen reaktionären Argumente der Leitartikelschreiberlinge und Redakteure zu akzeptieren.

Robert Jensen ist Journalistikprofessor an der University of Texas in Austin und Vorstandsmitglied des Third Coast Activist Resource Center; Abdruck (redaktionell gekürzt) mit freundlicher Genehmigung von www.zmag.de