13. Jahrgang | Nummer 4 | 1. März 2010

Ein Stein für Henni und die anderen

von Renate Hoffmann

Die Neugier regte sich, als ich das kurze Wegstück zum Henni-Lehmann-Haus in Vitte auf der Insel Hiddensee hinaufging. Im Pflaster eingelassen, sah ich eine Messingplatte, nicht größer als zehn Zentimeter im Quadrat, die zu  einem sogenannten „Stolperstein“ gehört, mit der Inschrift: „HIER WOHNTE HENNI LEHMANN GEB. STRASSMANN JG. 1863 GEDEMÜTIGT ENTRECHTET FLUCHT IN DEN TOD 18. 2. 1937 IN BERLIN.

Es genügt, die Eckpunkte zu wissen, um das Geschehene einordnen zu können: Eine Frau jüdischer Abstammung, die sich sozial engagiert und nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) der Sozialdemokratischen Partei beitritt.

Das Haus ist stattlich. Obwohl seit seiner Erbauung 1907 mehrfach verändert, erkennt man noch das noble Grundkonzept. Breit gelagert, großzügig von außen und innen. Das Ziegeldach weit heruntergezogen, trotzig gegen den scharfen Wind gestellt. – Der große Gesellschaftsraum, nun nicht mehr Diele mit abgehenden Zimmern, wie vorzeiten, folgt doch seiner ehemaligen Bestimmung: Hier versammelt man sich zu Vorträgen, Lesungen, hört Musik, besucht Ausstellungen oder nutzt die Bibliothek, die ihre Schätze anbietet. – So wünschten es Henni und Karl Lehmann bei ihrem Vorhaben, ein „Landhaus auf Hiddensee bei Rügen“ zu bauen.

Die geborene Henni Straßmann gehörte zu den mehrfach Begabten. Zur Malerin ausgebildet (soweit das einer Frau damaliger Zeit gelang), musizierte sie auch, und sie schrieb. – Die Bibliothekarin nimmt für mich Gedichte und eine Roman-Trilogie aus dem Schrank. „Gehen Sie vorsichtig damit um“, bittet sie. Ich blättere in dem Gedichtband. Henni umschwärmt die Insel:

„Hiddensoe. Um meine Insel singt das Meer sein Lied. / Sie schwimmt in Flut gleich schmalem grünen Blatte, / Sie reicht in Dünen, Heide, Moor und Matte, / Leuchtfeuer glimmen, und die Möwe zieht …“

Von ihrem Atelier im Obergeschoß aus hatte sie freien Blick nach dem Norden der Insel. In einer Federzeichnung hielt sie ihn fest. – Um das Haus standen ringsherum Sanddornbüsche, erinnert sich später der Enkel Ernest K. Lehmann. Und im Haus tummelte sich nicht nur die Familie.

Während der Sommermonate bevölkerten Künstler und Intellektuelle die Insel. Galt doch das kleine Eiland in der Ostsee, nach Gerhart Hauptmanns Tagebuchnotiz (1935), als „das geistigste aller deutschen Seebäder.“ Gäste aus dem großen Freundes- und Bekanntenkreis der Lehmanns kamen. Man lud zu musikalisch-literarischen Abendrunden.

Licht und Landschaft lockten Henni, die Malerin. Die Lebensbedingungen auf der Insel forderten Henni, die sozialpolitisch Engagierte, heraus.

Vorgelebt vom Vater, dem Berliner Arzt und Kommunalpolitiker Dr. Wolfgang Straßmann, übernimmt die Tochter Sinn und Streben nach sozialbewußtem Verhalten. Den Hiddenseern gibt sie ein Darlehen zum Bau eines Arzthauses. Um die einmalige Schönheit der Insel zu bewahren, wird sie zur Mitbegründerin des „Natur- und Heimatschutzbundes Hiddensee“. Auch  an der Entwicklung einer Genossenschaftsreederei hat sie entscheidenden Anteil. – Henni  Lehmanns Einsatz in der Frauenbewegung erscheint nur als logische Folge ihres Bemühens.

Als Malerin schart sie Kolleginnen um sich, die, wie sie, die Eigenart der schmalen Ostseeinsel schätzen. Und gründet gemeinsam mit Clara Arnheim zu Beginn der 1920er Jahre den „Hiddensoer Künstlerinnenbund“.

Henni erwirbt vom Mühlen- und Bäckermeister Schwartz in Vitte eine Lagerscheune, die dem Lehmannschen Landhaus benachbart liegt, läßt sie zu Ausstellungszwecken vorrichten und gibt ihr einen blauen Außenanstrich. Malerinnen, die zum Sommeraufenthalt kommen, zeigen hier ihre Arbeiten.

Werbeplakat: „Hiddensoer Künstlerinnenbund. / Kunstausstellung / Gemälde / Skizzen / Graphik. Motive von Hiddensoe und der Waterkant. Vitte in der blauen Scheune. Geöffnet Mittwoch und Sonntag von 4 – 6 Uhr. Sonst nach Meldung in der benachbarten Villa. Eintritt 25 Pfennige.“

Sie steht noch, die Kunstscheune; leuchtet in Berliner Blau; heißt so wie sie leuchtet und umgibt sich mit einem bunten Blumengarten. Auch bleibt sie ihrem Ur-Anliegen treu und erfreut die Besucher in den Sommermonaten mit erlesenen Ausstellungen. Geöffnet Mittwoch und Sonntag. Eintritt frei. –

Bekannte Malerinnen gehören dem „Hiddensoer Künstlerinnenbund“ an oder wirken sympathisierend mit. Einige von ihnen sind, wie Henni, jüdischer Abkunft. Sie geraten zunehmend in Gefahr. In Lebensgefahr.

Auf der Insel übt man sich beizeiten im nationalsozialistischen Jargon. Ein Werbeprospekt von Vitte aus den 1920er Jahren enthält den Hinweis: „Juden finden hier keine Aufnahme.“ Als wäre eine Säuberung über das kleine Landstück hinweg gegangen, brüstet es sich mit dem Prädikat: „Judenfrei.“ Henni Lehmann legt gegen diese Diffamierung Beschwerde ein. Sie ahnt nicht, welche Dimension die Verketzerung noch annehmen wird, der auch sie letztlich zum Opfer fällt.

Nach dem Tod ihres Mannes Karl Lehmann, Geheimrat und Professor der Rechtswissenschaft mit Lehrämtern in Rostock und Göttingen, bleibt Henni eine aktive Frau. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wachsen die Schwierigkeiten. Der Künstlerinnenbund erfährt seine Auflösung. Mal- und Ausstellungsverbote werden ausgesprochen. Die beiden Lehmannschen Kinder verlassen Deutschland. Ihre Mutter lebt weiterhin in Berlin, krank, allein und unter den Zeitumständen leidend. Sie wählt, wie es der „Stolperstein“ auf dem Weg zu ihrem Sommerhaus auf Hiddensee aussagt –  den Freitod.

*

Unweit von Henni Lehmanns Landhaus, gegenüber der „Blauen Scheune“, steht am Straßenrand ein Gedenkstein für Clara Arnheim (1865-1942). Malerin und Mitbegründerin des Bundes auf Hiddensee. Seit 1913 bereiste sie die Insel, angetan von der Besonderheit des Ländchens und dem Leben seiner Bewohner. – Die Arnheim, aus jüdischer Familie, erhielt ihre Ausbildung in Berlin. Zu Studienzwecken fuhr sie nach Paris, der „Kunsthauptstadt Europas“ um die Wende zum 20. Jahrhundert – und brachte von dort die lichten, durchsichtigen Farben der Impressionisten mit. Ihr waren die Nöte der „Malweiber“ wohlbekannt, denen man um diese Zeit eine akademische Ausbildung verwehrte. Clara unternahm etwas dagegen. Nicht nur in Henni Lehmanns Vereinigung auf Hiddensee. Man fand sie in Berlin als Mitglied unter anderem im „Verein der Berliner Künstlerinnen e.V.“ und im „Frauenkunstbund“. Sie leitete und beteiligte sich an Ausstellungen. In Leipzig gewann die Malerin 1914 zur „Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik“ eine Goldmedaille.

Wenn Clara Arnheim sommers die Insel besuchte und ihre Malutensilien auspackte, so geschah dies für die nächsten Wochen beim Bäckermeister Schwartz in Vitte. Der Stein vor dem Grundstück Norderende 174 erinnert daran. Im letzten Satz der Aufschrift liegt die ganze Tragik eines Künstlerlebens: „ … NACH MAL- UND AUSSTELLUNGSVERBOT STARB SIE 77-JÄHRIG IN THERESIENSTADT.“

Zwei Monate vor ihrem Tod schrieb Clara Arnheim in einem Brief an Frau Schwartz (28. Juni 1942): „Der Grund meines Schweigens lag darin, … daß  ich über Schweres, was über mir lastet, nicht schreiben wollte, ehe ich Sicheres darüber wußte. Man will jetzt die Alten von hier entfernen, und auch mir drohte das Geschick … In diesem Falle war es ein Glück, daß ich krank war … und ein Transport ging ohne mich ab … wenn ich abends auf dem Balkon sitze und der Mond scheint, denke ich an die schönen Hiddenseeabende. Wir müssen dankbar sein für all das Schöne, was wir genossen haben …“ Der 18. Transport nach Theresienstadt ging nicht ohne sie ab.

*

In der Berliner Kurfürstenstraße suche ich nach einer anderen Malerin jüdischer Herkunft, die dem Hiddenseer Künstlerinnenbund nahestand. Julie Wolfthorn (1864-1944). Gründungsmitglied der Berliner Sezession (1898), bedeutende Porträtistin, Grafikerin.

Klirrende Kälte lähmt die Stadt. Das Haus Nr. 50, in dem Julie W. jahrzehntelang lebte, gibt es nicht mehr. Auf dem Fußsteig liegt zusammengeschobener Schnee. Angespannt mustere ich den Untergrund. Eine Frau bleibt stehen: „Ham´ Se wat verlor´n? Wat suchen Se denn?“ „Einen Stolperstein.“ „Mensch, sei´n Se froh, det keener liecht! Bei die Kälte ooch noch hinknalln? Nee!“ Zwei Passanten fragen ebenfalls besorgt, ob ich etwas verloren hätte. “Nein, ich suche eine Gedenkplatte für eine Künstlerin.“ „Einen Stolperstein?“ „Ja, für Julie Wolfthorn.“

Neben einer Einfahrt, dicht am Zaun, finde ich – drei Erinnerungssteine. „HIER WOHNTE JULIE WOLFTHORN MALERIN … DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT TOT DEZEMBER 1944.“ Der zweite Stein gilt ihrer Schwester Luise, Übersetzerin: „ … DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT VERSCHOLLEN.“ An jenem 28. Oktober traf es noch einen Dritten, der als Untermieter bei Julie wohnte: „ … ERICH HIRSCHWEH JG. 1894 DEPORTIERT 1942 ERMORDET IN AUSCHWITZ.“

Julie Wolfthorn, eine schöne, begabte, angesehene Künstlerin. Man drängte sich danach, von ihr porträtiert zu werden. Unter ihnen waren die Ehepaare Gerhart und Margarete Hauptmann, Ida und Richard Dehmel, der Verleger Rudolf Mosse und seine Frau; der Malerkollege Christian Rohlfs und die Schauspielerinnen Carola Neher und Tilla Durieux.

Wie Henni L. und Clara A. wird Julie W. im öffentlichen Leben tätig. Mit Käthe Kollwitz begründet sie die Ausstellungsgemeinschaft „Verbindung bildender Künstlerinnen“. Zusammen mit anderen gehört sie zu den Unterzeichnern einer Petition, die Frauen eine Aufnahme an der „Königlich Preußischen Akademie der Künste“ ermöglichen soll. Julie kämpft gegen den Paragraphen 218. Und sie malt. Unentwegt. In kultivierter Farbgebung und Gestaltung. – „Sie besitzt das zuverlässig erfassende Auge, das auf feinste Tonharmonien eingestellt ist“, heißt es in einer Besprechung ihrer Werke (1916).

Am Tag vor dem Abtransport trifft eine Freundin die Schwester, Luise Wolf. „Morgen müssen wir fort“, sagt sie. Julie sei in der Wohnung und arbeite noch an einem schwarzen Kleid. „Man muß doch auf der Reise anständig aussehen …“