13. Jahrgang | Nummer 2 | 1. Februar 2010

Die Asche jener Jahre

von Henryk Goldberg

Hans-Dieter Schütt erklärt 20 Jahre nach  dem Ende der DDR, wie und warum Ideologie funktioniert:

Vor zwanzig Jahren wurde aus dem Erfurter Organ „Das Volk“ die Zeitung „Thüringer Allgemeine“. Aus Propagandisten des rechten linken Weges wurden Journalisten. Und jeder von ihnen, jeder von uns DDR-Journalisten, hat sein Erklärstück zu seiner Biografie, warum es so ging, wie es ging, und wie es kam, daß man doch ein Mensch blieb, irgendwie, trotz alledem. Aber niemand erzählt sich und seine Verstrickung so radikal, so unwehleidig wie Hans-Dieter Schütt. Er war Chefredakteur der „Jungen Welt“, der wohl handwerklich beste und politisch brutalste Journalist der späten DDR.

Niemand, der in der DDR Journalist war und blieb, hat diese Zeit wirklich unbeschadet überstanden. Die Aufmupfgeschichten, die sich mit dem Ganzkleingedruckten spreizen, mit zwischenzeiligem Dissidententum, schnurren zusammen zum rechtfertigenden Selbstbetrug. Es stand in der DDR nicht unter Strafe, kein Journalist sein zu wollen, wir hätten zu jeder Zeit aufhören können, aber es war doch ein schöner Beruf. Und nichts war gefährdeter als ein Talent, dem sich Entfaltungsmöglichkeiten boten, verbunden mit dem mentalen Sonderangebot, den persönlichen Ehrgeiz als selbstlose Dienstleistung für den Menschheitsfortschritt begreifen zu dürfen.

Hans-Dieter Schütt war der talentierteste der Chefredakteure, und er nutzte diese Fähigkeit auf mitunter brutale Weise. Wer ihn damals kannte, und der Autor dieser Zeilen kennt ihn als Vorgesetzten wie als Freund, weiß, daß da kein Hauch von bewußtem Zynismus war, Schütt schrieb seine Kommentare gleichsam aus voller, breiter Brust, armiert mit der Mentalität der politischen Wagenburg, wirklichkeitsvergessen durch die Ignoranz, die noch jedes Sendungsbewußtsein zur gefährlich-arroganten Selbstüberhebung degenerieren ließ. Nie, auch im privatesten, vertrautesten Umgang nicht, gab es jenen sarkastischen Was-soll-ich-denn-machen-Ton, Schütt tat, was er tat, ungebrochen, da war kein privater Rückzugsraum. Die öffentliche Figur Schütt war  immer, und ist es noch, vollkommen deckungsgleich mit der privaten. Und zugleich war die Junge Welt unter seiner Leitung nicht nur ein Organ, sondern eine attraktive Zeitung für junge und halbwegs junge Journalisten, die dort doch wenigstens, wenn sie konnten, Handwerk ausüben durften. Dieser Chefredakteur konnte nicht nur Handwerk, er forderte und förderte es auch. Im Rahmen der politischen Geschäftsordnung war journalistisches Schreiben an der Jungen Welt zu Teilen etwas anderes als politische Verlautbarung, wenngleich es am Ende darauf hinauslief, natürlich. Aber die Junge Welt war immer auch ein Angebot, und eine Gefährdung, für Leute, die tatsächlich schreiben, Kreativität leben wollten. Was am Ende bedeutete, daß das Maß des Selbstbetruges hier ein anderes war, die Illusion über das eigene Tun, auch eine Art von Arroganz: Man machte es ja besser als die Kollegen der anderen Blätter, man konnte dröges Politisches romantisch poetisieren, will sagen: Wir waren besser als andere, indem wir uns und unsere Leser besser betrogen. Das war die eigentliche Gefährdung der Jungen Welt, die Verführung, die darin bestand, ein Talent ausleben zu dürfen.

Der Autor dieser Zeilen schrieb Rezensionen für die beiden Hauptorgane des Landes, Neues Deutschland und Junge Welt, die Jugendzeitung war der in jeglichem Betracht angenehmere Arbeitsplatz, hier gab es Anerkennung für Texte, die im ND nie die Setzerei erreicht hätten. Schütt ermöglichte manches, was anderen Ortes nicht denkbar war. Als etwa Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“ im Berliner Maxim Gorki Theater uraufgeführt wurde, annoncierte ich unmittelbar nach der Premiere dem Chefredakteur, der die Aufführung nicht kannte, die zu erwartenden kulturpolitischen Querelen, das war die Art unseres  Umgangs. Schütt wartete nicht die amtlichen Verlautbarungen ab, er gab mir Carte blanche, auf sein Risiko. Und als wir einmal ein ziemlich persönliches und ziemlich substanzielles, nicht politisches, Problem miteinander hatten, da galt ihm sein offizieller Status nicht einen Moment als Vorteil,  obgleich wir einander ziemlich hart gegenüberstanden. So wie ihm auch persönliche Freundschaft nie hinderte, mich vor aller Augen und Ohren zu maßregeln, ohne einen Hauch von Zwinkern, ohne das hinterher privat zurückzunehmen.

Nehmt alles nur in allem, dann hatte ich in dreißig Jahren Journalismus nie einen Chefredakteur, der mir wichtiger und angenehmer gewesen wäre, dem mehr persönlichen und professionellen Respekt zu erweisen mir Bedürfnis ist als Hans-Dieter Schütt. Trotz alledem.

Heute ist Hans-Dieter Schütt einer der besten deutschen Interviewer – und jeder seiner Theaterkritiken ist die wütende, verzweifelte Erinnerung an den Demagogen  eingeschrieben, der er einmal war: die Scheu, Urteile zu sprechen, das unbedingte Bedürfnis, sich auf andere einzulassen, wo er sich sonst ausließ über sie. So ist er als Kritiker nicht exzessiv meinungsfreudig, aber eben darum gibt es keinen anderen deutschen Theaterkritiker, der sich  derart auf Schauspieler einläßt, der bereit ist, einer berührenden Geste, eines herzgehenden Satzes wegen, das ungelungene Übrige zu vernachlässigen, das macht Schütt als Theaterkritiker singulär. Und so extrem, so unnachsichtig er sonst hellen Optimismus und funkelnde Zukunft dekretierte, so extrem, so unnachsichtig attestiert er jetzt dunkle Sinnlosigkeit und düstere Aussichten: Der Mann hat, mental, seinen Vorrat an Optimismus verschleudert und überanstrengt, nun ist es, als versuche er wütend die Bilanz auszugleichen.

Und weiß doch, daß das nicht gelingen kann. So radikal er einst über andere rechten konnte, so radikal rechtet er jetzt – über sich. Das ist, wer ihn kennt, keine Attitüde, das ist Reue durch Selbstzerfleischung. Der Intellektuelle, der weiß, daß er ein gelingendes Leben versäumt hat durch die Verführbarkeit seines Talentes, der weiß, daß er nun zum Exempel dient und sich masochistisch unters Mikroskop legt. Dieses Buch ist kein Plaudern aus dem Schreibkästchen, es ist eine, im Übrigen brillante, Selbstabrechnung, voller Zorn – auf sich selbst. Im Wissen auch, den einen als charakterloser Überläufer zu gelten und den anderen als opportunistischer Konvertit. So ungeschützt hat kein anderer Exponent der DDR in die Asche seiner Jahre geblickt. Wer dieses Buch liest, weiß mehr darüber, wie und warum Ideologie funktioniert.

Und wer den Mann kennt, wird die Tragik darin empfinden.

Hans-Dieter Schütt: Glücklich Beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR; WJS Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-9379-53-2, 220 Seiten, 19,95 Euro