Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 8. Juni 2009, Heft 12

Nahost und die Linke

von Peter Petras

Das Buch riecht noch nach Druckerei und ist auch inhaltlich frisch. Die Rede ist von dem soeben erschienenen Band von Wolfgang Gehrcke, Jutta von Freyberg und Harri Grünberg; Gehrcke ist außenpolitischer Sprecher der Partei DIE LINKE und Obmann im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages, die beiden anderen arbeiten mit ihm. Der Titel scheint etwas barock: »Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nahost-Konflikt. Eine notwendige Debatte«. Und doch leisten die Autoren alles, was sie versprochen haben. Es wird – kurz, knapp, präzise und für all jene, die sich nicht seit Jahrzehnten mit diesen Themen befassen, sehr informativ – in mehreren Strängen erzählt: die Geschichte des Zionismus und der Haltung der alten Arbeiterbewegung zu ihm, die Geschichte der imperialistischen Politik im Nahen Osten und die Geschichte des Nahostkonflikts nach 1945, die Konstellationen der linken Debatten historisch und aktuell, schließlich der Versuch, Aufklärung zu leisten hinsichtlich grundlegender Begriffe, die politisches Handeln leiten können. Die Autoren beziehen sich ausdrücklich auf die jüngsten Debatten unter den Linken zu dem Thema, aber darin erschöpft sich ihre Perspektive nicht. Am Ende umreißen sie auch die Erfordernisse einer Lösung des Nahostkonflikts.
Jede Besprechung eines Buches ist selektiv. Ich will hier folgende Gesichtspunkte hervorheben. Wer die »antideutschen« Geifereien kennt, ist erstaunt, wie ruhig und sachlich die Autoren argumentieren. Begriffe wie Kolonialismus, Imperialismus, antiimperialistischer Kampf und Befreiungsbewegung seien »regressiv und antiemanzipatorisch, auf jeden Fall unzeitgemäß und überflüssig«, meinen jene. Hier wird argumentiert, daß die Gewalt aus dem System kolonialer Ausplünderung der Länder des Südens kam, das die europäischen Kolonialmächte errichtet hatten. Es beruhte auf der »Ausbeutung der Ressourcen und einheimischen Arbeitskräfte auf der Basis eines unmittelbaren, offenen Zwangsverhältnisses«. Dagegen formierte sich im 20. Jahrhundert Gegengewalt, die auf Beseitigung des Kolonialjochs zielte, und am Ende erfolgreich war. »Noch nie hat es eine hübsch anzuschauende Bewegung der nationalen Befreiung oder Unabhängigkeit gegeben«, wird der philippinische Globalisierungsgegner Walden Bel10 zitiert. Teile der Linken der Metropolen, die schon in den 1960er und 1970er Jahren ihre Wünsche auf gesellschaftliche Veränderungen auf die Befreiungsbewegungen des Südens projiziert und diese dann glorifiziert hatten, fühlten sich bereits von den Kampfmethoden der FLN in Algerien oder der FNL in Vietnam abgestoßen. Sie hatten nicht die geringste Ahnung davon, daß die Gewalt der Befreiungsbewegungen das Echo auf die Gewalt der weißen Herren war. Wer die Kämpfe, noch dazu unter einer Perspektive der Erkämpfung und Verteidigung des Nationalstaates, für regressiv hält, landet dann bei einer Unterstützung der imperialen Politik des Westens. Da war – das wird ebenfalls deutlich sichtbar gemacht – die Sozialdemokratie vor 1914 übrigens auch schon, als sie meinte, der Kolonialpolitik eine zivilisierende Rolle zumessen zu können. So ist heute das »antideutsche « Konzept eines »zivilisatorischen Kapitalismus« direkt kompatibel mit den Kriegen des Westens.
Das Verhältnis zum Kampf der Palästinenser steht in diesem Kontext. »Für Linke gilt das Völkerrecht, so ergänzungsbedürftig es auch sein mag, in dem das Recht auf Widerstand gegen jede Form von Unterdrückung festgeschrieben ist. Menschen- und Völkerrechte legitimieren Widerstand. Israel hat dieses Recht stets f5ir sich reklamiert, die gleichen Rechte für die Palästinenser aber nicht akzeptiert.« Die Geschichte der Gründung des Staates Israel wird mit sehr viel Sachkenntnis nachgezeichnet. Am Anfang steht die Einwanderung nach Palästina seit Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere von Juden aus Rußland angesichts der dortigen Pogrome. Mit der Balfour-Deklaration 1917 versprach die britische Regierung den Zionisten die nationale Heimstatt in Palästina. Gleichzeitig hatte Großbritannien der arabischen Nationalbewegung die Unabhängigkeit versprochen, wenn sie gegen das Osmanische Reich kämpft, das im ersten Weltkrieg mit Deutschland verbündet war. Und im Sykes-Picot-Abkommen von 1916 hatte Großbritannien mit Frankreich die koloniale Aufteilung des Nahen Ostens nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches vereinbart. Das war die Konfliktlage, aus der heraus das Prinzip: »Teile und herrsche« von der britischen Kolonialherrschaft am Ende nicht mehr beherrschbar war, und sie die Verantwortung der UNO übergab, die 1947 die Gründung von zwei Staaten in Palästina beschloß: Israels und eines arabisch-palästinensischen Staates. Ersteren gibt es seit über sechzig Jahren, den zweiten noch immer nicht. Es war damals vor allem auch die Sowjetunion, die die Gründung des Staates Israel unterstützte, auch mit Waffenlieferungen.
Erst später drehte sich die Konstellation, Israel war mit den USA verbündet und die Sowjetunion mit jenen arabischen Staaten, die eine Politik der nationalen Befreiung betrieben.
Zu den wichtigsten Leistungen des Buches gehört, das Verhältnis der Linken zum Zionismus neu verdeutlicht zu haben, und zwar vor dem Hintergrund der langen Geschichte der linken Debatten zu diesem Thema. Die »pauschale Ablehnung des Zionismus durch namhafte sozialdemokratische und kommunistische Theoretiker« war nicht gerechtfertigt. Die sozialistischen Zionisten hatten recht, »daß der Klassenkampf und der Sozialismus noch lange nicht das Problem des Antisemitismus lösen«. Der Holocaust legitimierte die Gründung Israels. Die Tragik aber ist: »Was für Jüdinnen und Juden Befreiung und Sicherheit war, die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben und insofern auf Moral und Recht gebaut, war zugleich für die palästinensische Bevölkerung unmoralisch und Unrecht.«
Nach all den Kriegen seit über sechzig Jahren, jüngst dem Gaza-Krieg ist die Lösung des Nahost-Konfliktes dringender denn je. Israel hat erneut gezeigt, daß es Kriege gewinnen kann, doch dies um einen hohen moralischen Preis und ohne den Frieden zu gewinnen. Die aktuelle Lage wird so beschrieben: »Direkte Gespräche zwischen Israel und Palästina sind seit Oslo desavouiert und seit dem Gaza-Krieg noch schwieriger geworden. Der Oslo- Prozeß ist nicht reaktivierbar und die Ergebnisse der Annapolis-Konferenz haben nie gegriffen. Das Nahost-Quartett hat sich durch Untätigkeit blamiert. Bleibt nur, daß die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates der UNO ihre Zuständigkeit und Verantwortung wahrnehmen, das durchzusetzen, was sie selbst beschlossen haben. Ob das möglich ist, hängt wesentlich von einer Neuorientierung der Nahostpolitik der USA ab.«
Aus linker Sicht ist die Politik der Bundesregierung zu kritisieren. Die einseitige Politik pro Israel hat die Bedeutung Deutschlands für die Lösung des Konflikts verringert. Nötig wäre dagegen eine aktive Politik zur Konfliktlösung. Dazu könnte eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten beitragen, verbunden mit Demilitarisierung und der Schaffung einer atomwaffenfreien Zone. Ohne die Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates an der Seite Israels wird es keine Lösung des Konflikts geben. »Israel und Palästina sind aneinandergekettet, kein Schritt des Einen ist möglich ohne Auswirkungen auf den anderen.«

Wolfgang Gehrcke, Jutta von Freyberg, Harri Grünberg: Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nahost-Konflikt. Ein notwendige Debatte, Papyrossa Verlag Köln 2009, 282 Seiten, 16,90 Euro