von Wladislaw Hedeler
Nach der »Archivrevolution« der neunziger Jahre wurden in Rußland sehr viele Dokumente zugänglich, die den Terror der Jahre 1936 bis 1938 in der UdSSR aus der Perspektive der politischen Polizei und der Führung der Kommunistischen Partei – zum Teil kontrovers – beleuchten. Im Westen waren zunehmend Stimmen zu vernehmen, die die klassische Totalitarismustheorie m revidieren suchten und die tradierten Auffassungen über die Kräftekonstellation in Staat, Partei und Gesellschaft in Frage stellten.
Doch an der Haltung der Historiker aus Rußland fiel die Abstinenz gegenüber den im Westen diskutierten Erklärungsmustern auf. Nach Jahren der Sichtung und Edition von Dokumenten aus ehemaligen sowjetischen Geheimarchiven greifen die russischen Kollegen einige der damals umstrittenen Thesen heute wieder auf. Zu ihnen gehört Wladimir Chaustow, der an Herausgabe und Kommentierung der vier Bände umfassenden Edition »Lubjanka, Stalin und die GPU/NKWD/MWD« mitgewirkt hat.
Dem vorliegenden, von ihm gemeinsam mit dem schwedischen Historiker Lennart Samuelson verfaßten Buch liegt die Auswertung der in Stalins Archiv abgelegten Dokumente des NKWD über die Planung und Durchführung des gegen das Volk gerichteten Terrors zugrunde. Die Autoren werteten insbesondere solche Dokumente aus, die Bearbeitungsspuren Stalins aufweisen.
Von besonderem Interesse waren die Untersuchungsakten, die viele unverfälschte Informationen über die Situation in der entsprechenden Region, die Haltung des Beschuldigten zu Stalin und zu Entwicklungen in der UdSSR enthalten. Dieses Material wurde von den Untersuchungsführern im Sinne der Anklage manipuliert und redigiert. Die in den Untersuchungsakten von NKWD-Mitarbeitern abgelegten Aussagen gestatten es, sowohl die Mechanismen des Massenterrors als auch dessen Ergebnisse und Stalins sich wandelnde Einstellung zum Terror präziser zu fassen.
Neben Statistiken der Massenrepressalien sind heute die Ausrichtung und die Phasen des Großen Terrors sowie der sogenannten nationalen Operationen des NKWD bekannt. Genauer als bisher – und das ist das Leitmotiv des vorliegenden Buches – läßt sich die Rolle, die Stalin dabei spielte, beleuchten. Chaustow (er wertete die im Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation aufbewahrten Dokumente aus) und Samuelson (er wertete die im Russischen Staatsarchiv für Wirtschaftsgeschichte und die im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte aufbewahrten Dokumente aus) skizzieren, welche Ziele Stalin mit der stetigen Verschärfung der Massenrepressalien verfolgte, wie er die »Effektivität« des Terrors einschätzte und warum er später mit Jeshows Absetzung den Kurs änderte.
Ein weiteres, unter Historikern kontrovers diskutiertes Thema ist die Eigenständigkeit der Hauptverwaltung Staatssicherheit sowie die vor Ort nachweisbare Eigeninitiative bei der Umsetzung des von oben vorgegebenen Solls für Verhaftungen und Todesurteile. Im Ergebnis ihres fundierten und lesenswerten, der Studie vorangestellten Literaturberichtes gelangen beide Autoren zu dem Schluß, daß die konkrete Beteiligung und Rolle Stalins an der Entfaltung der Massenrepressalien sowohl in der russischen als auch in der ausländischen Fachliteratur immer noch ungenügend untersucht worden ist.
Heute ist es möglich den Terror nicht mehr nur fragmentiert (Nomenklatura, Armee, nationale Operationen, Komintern, NKWD), sondern in der Einheit seiner Bestandteile auf der Grundlage der überlieferten Dokumente zu untersuchen. Die Zeit, da dies nur ausgehend von Memoiren oder – wie im Falle von Trotzki – Privatarchiven, Berichten von in den Westen geflohenen Funktionären oder Einzelbeständen aus Beutearchiven wie dem Smolensker Archiv möglich war, ist vorbei.
Der von den Verfassern ausgehend vom Februar/März-Plenum 1937 vorgenommene Rückblick auf die Jahre 1934135 ist aufschlußreich. Hier, das heißt, lange vor Beginn der Massenrepressalien, finden sich die Feindbilder und Zielgruppen des Terrors von den »sozial-gefährlichen Elementen« bis hin zu »ausländischen Spionen«. Parallel zur Umstrukturierung des NKWD, die im Buch von Petrow und Jansen (siehe Blättchen 9/2009) detailliert nachgezeichnet wird, arbeitete Jeshow am Szenario »Von der Opposition zur offenen Konterrevolution«.
Ergebnis: Die Parteiführung gab das Heft nie aus der Hand, sie hatte stets das Sagen. NKWD und Politbüro arbeiteten immer Hand in Hand, auch in der Zeit, als die NKWD-Führung über uneingeschränkte Vollmachten verfügte. Breiten Raum nimmt die Kommentierung der Entscheidungen auf dem Juniplenum 1937 ein. Stalin erkannte, daß Repressalien und Terror nicht zur positiven Veränderung der wirtschaftlichen Situation der UdSSR beigetragen hatten. Als eine normale Leitungstätigkeit wegen der Verhaftungsorgien nicht mehr gewährleistet war, zog Stalin im wahrsten Sinne die Notbremse. Die ersten Politbürobeschlüsse hierzu sind mit Januar 1938 datiert.
Wladimir Chaustow, Lennart Samuelson: Stalin, NK WD i repressii 1936- 1938 gg. [Stalin, das NKWD und die Repressalien in den Jahren 1936-19381 Moskau: Rosspen 2009, 432 Seiten (Istorija Stalinisma [Geschichte des Stalinismus])
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