von Erhard Crome
Das sich bürgerlich nennende Lager in Berlin hat sich seine zweite politische Niederlage in einem Volksentscheid geholt. Beim ersten Mal ging es um den Flughafen Tempelhof, jetzt um die Einführung obligatorischen Religionsunterrichts alternierend zum neuen weltlichen Fach Ethik. Die Christdemokraten und die Liberalen hatten im Verein mit den großen Amtskirchen und einem Haufen Geld gehofft, dem rot-roten Senat eine Schlappe beibringen zu können. Kurz vor dem Abstimmungstag hing in etlichen Straßen an jedem Laternenmast ein »Pro-Reli«-Plakat, auf dem behauptet wurde, es ginge um »die Freiheit«. Um wessen?
Am Ende beteiligten sich lediglich 29,2 Prozent der Wahlbeteiligten an der Abstimmung. Im Unterschied zu der Tempelhof-Abstimmung wurde aber nicht nur das Quorum nicht erreicht, sondern es stimmte auch eine Mehrheit gegen das Pro-Reli-Ansinnen. Die Boulevardpresse insultierte, die Einwohner hätten »Gott abgewählt«, und die Stadt sei immer noch gespalten.
Die Berliner zu beschimpfen, ist eine alte Masche. Und diese – Zuwanderungen, Regimewechsel, Kriege und Revolutionen hin oder her – hatten immer ihren eigenen Kopf, meist einen sehr dicken. Am 19. Januar 1871, dem Tage nach der Kaiserproklamation des preußischen Königs in Versailles, wurden in Berlin am Kriegsministerium Fahnen aufgezogen. Auf die erstaunte Frage von Passanten, ob denn etwas passiert sei, antwortete der Portier, nichts wäre passiert, der König sei nur Kaiser geworden.
Für die Siegesparaden der aus Frankreich heimkehrenden Truppen hatten sich die Herrschenden drei Tage Feierlichkeiten ausgedacht. Am ersten Tage sollte der preußische Ministerpräsident und nunmehrige Reichskanzler Bismarck als »Schmied des Reiches« einen triumphalen Empfang erfahren, am zweiten sollten die Heerführer Roon und Moltke gefeiert werden und am dritten Tage, sozusagen als Krönung des Ganzen, schließlich der Kaiser in die Stadt einziehen. Die Stadt Berlin aber, »immer bockig«, wie Bismarck bemerkte, hatte dieses Programm »aus Kostengründen« abgelehnt und Kaiser, Kanzler und Marschälle zusammen am 16. Juni 1871 begrüßt.
Als die ersten Wahlen zum neugegründeten Reichstag stattfanden, fielen die sechs Berliner Wahlkreise wie auch die beiden Wahlkreise in Potsdam und Umgebung an die oppositionelle Fortschrittspartei. 1878, als ihm die verschiedensten Staatsstreich-Gedanken durch den Kopf gingen, die von ihm selbst geschaffene Verfassungsordnung wieder zu sprengen, vermutete Bismarck in Berlin 50 000 Sozialdemokraten, die in der Lage seien, die gesamte Stadt lahmzulegen. Als Mittel dagegen erwog er eine drastische Verstärkung der Garnison von Berlin. Vielleicht hätte man überhaupt die Reichshauptstadt an einen anderen Ort verlegen sollen? Ein paar Jahre später meinte Bismarck, daß er sich »vor Berlin« graute. Kaiser Wilhelm II. ging es zeitlebens nicht viel anders. Vielleicht hatte er auch nur die richtige Vorahnung. Jedenfalls wurde er hier schließlich entthront; am Berliner Reichstag rief der Sozialdemokrat Scheidemann am 9. November 1918 die Republik aus, am Schloß Kar1 Liebknecht die »Sozialistische Republik«.
Den Nationalsozialisten nutzte es ihrerseits nicht viel, daß sie 1926 Joseph Goebbels, ihren schlauesten Propagandisten, als Gauleiter nach Berlin geschickt hatten. Bei den Wahlen zum Reichstag am 6. November 1932 wurden von den 2,78 Millionen gültigen Stimmen (Berlin hatte damals etwa 4,3 Millionen Einwohner) lediglich 720 619 Stimmen für die NSDAP abgegeben (25,96 Prozent), aber 860 850 Stimmen für die KPD (31,02 Prozent) und 646 647 Stimmen für die SPD (23,30 Prozent). Auch bei den von den Nazis – bereits unter staatsterroristischer Gewaltanwendung – manipulierten Reichstagswahlen am 5. März 1933 hatten die beiden Arbeiterparteien zusammen immer noch deutlich mehr Wählerstimmen als die NSDAP. In Berlin ist Hitler nicht zum Reichskanzler gewählt worden.
Nach 1945 war Berlin ein zentraler Ort der Auseinandersetzung des Kalten Krieges – »Spalter-Mark«, Berlin-Blockade und Mauerbau waren drei Schritte, die hier gegangen wurden. In der Zusammenbruchsphase der späten DDR spielte die Enttarnung der gefälschten Kommunalwahlen vom Mai 1989 eine herausragende Rolle. Wahrscheinlich waren alle Wahlergebnisse in der Geschichte der DDR, nicht ausgeschlossen auch schon die Landes- und Gemeindewahlen 1946 unter sowjetischer Ägide, gefälscht.
Und dennoch waren dabei in den offiziellen Ergebnislisten der »Volkswahlen« für Berlin, zumal für die Wahlbezirke in Berlin-Prenzlauer Berg, bis in die achtziger Jahre stets die meisten Nein-Stimmen zugelassen worden. Denn die Herrschenden in der DDR waren skeptisch gegenüber den Berlinern, während umgekehrt die Einwohner des Berliner Ostens die sächsischen Stimmen bei Polizei, Verwaltung und Behörden stets als Stimmen der »fünften Besatzungsmacht« ansahen.
Nachdem seit Oktober 1989 in Leipzig die »Montagsdemonstrationen« gegen die real existierenden Verhältnisse in der DDR immer größeren Zuspruch gefunden hatten, fand am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz die größte Demonstration und Kundgebung in der Geschichte der DDR statt. Nach offiziellen Angaben hatte sie 500 000 Teilnehmer; andere Quellen sprechen von etwa einer Million. Die Schauspielerin Steffie Spira hatte die DDR-Führung zum Abtreten aufgefordert.
Auf der berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde, machte um 18.53 Uhr Politbüromitglied Schabowski »nebenbei« die Mitteilung, daß die SED-Spitze beschlossen habe, eine Regelung zu treffen, die »die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik«. Dann verlas er die neue Reiseregelung, die der Ministerrat der DDR beschlossen habe. Die Nachrichtensendungen des westdeutschen Fernsehens, das von den meisten DDR-Bürgern gesehen werden konnte, brachten ihrerseits die Mitteilung, die ARD-»Tagesschau« um 20 Uhr als Spitzenmeldung. Um 20.15 Uhr begannen sich die ersten Berliner an den Grenzübergängen zu sammeln, acht bis zehn Menschen Sonnenallee, zwanzig Invalidenstraße, etwa fünfzig Bornholmer Straße. Dort war es gegen 21 Uhr bereits eine Menschenmenge; die ersten wurden dann 21.20 Uhr »kontrolliert« nach Westberlin gelassen. Gegen 22.30 Uhr waren wegen des Ansturms Kontrollen nicht mehr möglich. »Wir fluten jetzt«, meldete der zuständige Kommandeur des Übergangs Bornholmer Straße seinen Vorgesetzten. Die Berliner hatten die Mauer aufgedrückt, ohne auf Genehmigungen der Behörden zu warten. Es fiel kein Schuß. Die Nachkriegsordnung, die so fest schien, brach zusammen.
Jetzt ist Berlin wieder Hauptstadt. Aber auch die neuen Herren (und Herrinnen) werden sich daran gewöhnen müssen, daß die Berliner machen, was sie wollen. Interessanterweise haben daran auch die in manchen Gegenden der Stadt massiven Zuwanderungen aus dem Westen und die Verdrängung der angestammten Ossis nichts geändert. Es ist der genius loci.
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