Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 27. April 2009, Heft 9

Zeit im Bild

von Erhard Weinholz

Im Frühsommer 1990 kam mir die Idee, mit dem Rad ein oder zwei Wochen durch die DDR zu fahren. Mehr als vierzig Jahre, mein ganzes bisheriges Leben, war ich hier zu Hause gewesen; ich hatte dieses Land nicht sonderlich geliebt, aber auch nicht verlassen wollen, und zuletzt war es sogar mein Land geworden. Von ihm wollte ich mich nun verabschieden. Doch immer war Wichtigeres zu tun in diesem Jahr der vier Wahlen, und es fehlte mir wohl auch an Entschlußkraft. Einige Jahre darauf begann ich, DDR-Ansichtskarten zu sammeln; inzwischen habe ich gut 250, die meisten aus der Zeit zwischen den späten fünfziger und den frühen siebziger Jahren. Sie zu durchmustern, wurde mir eines Tages bewußt, ist so etwas wie ein Ersatz für die versäumte Abschiedstour: Vom Ostseebad Boltenhagen bis zum thüringischen Eisenach geht die Reise kreuz und quer durch alle zwölf Bezirke; nur Berlin habe ich ausgespart.

Manch alten Bekannten begegne ich auf dieser Fahrt. Zum Beispiel den Lautsprechersäulen aus dem Funkwerk Leipzig, die in Warnemünde an der Strandpromenade wie auf der Luckenwalder Thälmannstraße und am Quedlinburger Markt zu finden sind. Auch in meinem Heimatort stand so ein Lautsprecher – auf dem Goetheplatz nahe bei der Bürgermeisterei. Am 1. Mai wurde er in Betrieb genommen, da übertrug der Deutschlandsender aus Berlin, und an manchen Nachmittagen im Frühjahr, wenn Heinz-Florian Oertel mit der Friedensfahrt unterwegs war. Irgendwann in den Sechzigern ließ die Massenbegeisterung für diese Radfernfahrt jedoch nach, die Lautsprechersäule stand noch ein paar Jahre nutzlos herum und wurde dann abmontiert.

Aus DDR-Zeiten vertraut sind mir auch die damals fast allgegenwärtigen Losungen: »Mit der ganzen Kraft und dem Elan des VI. Parteitages der SED vorwärts zu neuen Erfolgen beim umfassenden Aufbau des Sozialismus« (Wandlitz, Rat der Gemeinde, 1967) oder »Neue Taten im sozialistischen Wettbewerb – Ausdruck unseres Dankes für die Beschlüsse der 5. Tagung des ZK« (Schwaan/Mecklenburg, 1976). »Ruhm und Ehre dem unsterb . . . dem großen Vorkäm . . .« liest man auf einer Karte aus Gräfenroda; aus dem Jahre 1955 stammt sie, da weiß man, wer gemeint ist. Leicht anachronistisch wirkt die Spruchtafel, die noch 1970 am Oberwiesenthaler Ferienheim »Friedenswacht« hing: »Wer gegen Verhandlungen mit Vertretern der Deutschen Demokratischen Republik ist, der ist gegen die Wiedervereinigung Deutschlands«.

Doch so staatsofliziell kommt die Postkarten-DDR nur gelegentlich daher. Gern zeigt sie sich als verträumtes Idyll, mit einem Stück Fluß oder Kanal, ein paar Häusern und vielleicht ein, zwei Personen als Staffage. Noch in den Sechzigern erscheint sie zudem nicht selten als autofreie Zone – etwa auf Straßenansichten von Neuruppin, Ilfeld (Südharz), Weinböhla oder Jena. Gelegentlich wirkt sie fast schon zeitlos – wie auf einer Brandenburger Karte aus dem Jahre 1968: Rechts eine Reihe zweistöckiger Gründerzeithäuser, dann ein alter Torturm, eine dicke Frau radelt auf holprigem Pflaster stadteinwärts, vorn auf dem Gehweg das halbe Dutzend Männer in Räuberzivil scheint gerade von der Arbeit zu kommen – das hätte man ebenso 1928 fotografieren können.

Die DDR war jedoch, längere Zeit zumindest, ein moderner Industriestaat, und so präsentiert sich auf diesen Karten auch neues. Sonderliches Interesse können die kastenförmigen Bauten der AWG-Siedlung in Rangsdorf (Kreis Zossen) oder des VEB Textilreinigung »Elisabeth Bruhn« in Torgelow, um nur zwei Motive zu nennen, allerdings nicht beanspruchen. Industriebauten sieht man auf solchen Karten im übrigen äußerst selten, vielleicht aus Gründen der Geheimhaltung, vielleicht auch, weil sie nicht in den Bildkanon paßten. Aus eben diesem Grunde fehlen auch Ansichten von den häßlichen Ecken, von denen es in den Städten und Dörfern mehr als genug gab. Ganz verheimlichen ließ sich der Mangel an Baukapazitäten allerdings nicht. Beim Ferienheim der GHG Berlin in Auerbach-Brunn, die Karte stammt aus dem Jahre 1967, schaut am Turm über dem Portal das blanke Mauerwerk hervor, ein Stück darüber sind Schieferziegel locker, und vom Fallrohr der Regenrinne weisen links und rechts zwei weiße Streifen abwärts. Stärker noch sind die Putzschäden an den Römischen Bädern in Potsdam-Sanssouci, zu sehen auf einer Karte aus den frühen Achtzigern -man könnte meinen, sie sei zum Zwecke des Protests verbreitet worden.

Will man noch mehr über das Leben in der DDR erfahren, lohnt es sich, die Rückseiten der Karten zu studieren: Gut die Hälfte ist beschrieben, Urlaubsgrüße stehen dabei an erster Stelle. Mitunter liest man ja, das Leben in diesem Lande sei ein graues, ödes Einerlei gewesen, und die Einwohnerschaft habe als Antwort darauf das Meckern als Volkssport betrieben. Die Karten sagen anderes. »Verpflegung gut und reichlich: Unterkunft sehr gut«, vermeldet 1958 jemand aus Friedrichroda. »Einrichtung im Bungalow ist prima«, heißt es 1968 auf einer Karte von der Talsperre Pöhl, und 1985 schreibt eine junge Frau aus dem Heringsdorfer FDGB-Heim »Solidarität«: »Gestern mittag gab es Rehbraten. Heute Roulade«. Doch es war noch mehr zu loben: »Nachtbars gibt es genug«, berichtet 1966 ein Kühlungsborn-Urlauber. Kurz und gut: »Hier ist ein Tag schöner als der andere.« (Bad Elster, 1963)

Doch es wurde auch geschimpft. Zum einen – gelegentlich – auf die Reichsbahn. Im Februar 1970 etwa schrieb jemand, eben in Rostock angekommen, seiner Hallenser Familie: ». . . habe mich mit 1 Kanne Kaffee gewärmt. Der Zug war kalt. Die sparen überall.« Zum anderen war man – erheblich öfter – mit dem Wetter unzufrieden, für das »die« nun allerdings nichts konnten. Oder wurde da in Wahrheit die Politik von Staat und Partei kritisiert? Übte man sich hier wieder einmal in der angeblich von Kind an gewohnten Sklavensprache? Vielleicht nimmt sich die DDR-Forschung einmal dieses Themas an.

Von Erhrd Weinholz stammt das Buch »Schon vorbei. Berliner Geschichten und Notizen«, trafo Verlag Berlin 2009, ISBN 9 78-3-89626-668-2, 13,80 Euro