von Erhard Crome
Der Gipfel ist vorbei. Im engeren Sinne ist nicht viel passiert. Es wurde ein neuer NATO-Generalsekretär gekürt, der bisherige dänische Ministerpräsident, Anders Fogh Rasmussen. Und schon das war schwierig, wollte doch die Türkei das wegen der berüchtigten Mohammed-Karikaturen in der dänischen Presse zunächst blockieren. Nach einem Vier-Augen-Gespräch von Barack Obama mit dem Präsidenten der Türkei hieß es, sei dann das Einlenken erfolgt. Ein Papier zur künftigen Strategie der NATO, wie es vor zehn Jahren zum Übergang von der »Verteidigung« des Territoriums der NATO-Länder im Kalten Krieg zu weltweiten Militäreinsätzen zum Behufe der Sicherung von Rohstoffzugängen und Handelswegen verfertigt wurde, liegt nicht vor, allenfalls die Erklärung, es werde ein neues Strategiepapier geben. Der bekannten Bekundung, der Afghanistan-Einsatz der NATO sei die Schicksalsstunde des Bündnisses, wurde nichts neues hinzugesetzt. Und die dürftige Argumentation wird nicht besser, wenn sie jetzt von dem netten Barack Obama vorgetragen wird.
Andererseits waren die Demonstrationen gegen die NATO auch nicht das, was sie zu Zeiten des Obama-Vorgängers waren, nicht einmal in der Zahl der Demonstranten. Der jetzige Präsident gibt keine Haßfigur ab. Und wenn man die jungen Menschen zählt, die zu seinen öffentlichen Auftritten kamen, waren das auch nicht wenige. Es gibt keine Stimmung in der Bevölkerung gegen Obama und keine gegen die NATO; die Afghanistan-Einsätze werden hierzulande mehrheitlich fatalistisch hingenommen, zumindest solange sich dort die Lage nicht abrupt verschlechtert. Der schnöselige Londoner Bürgermeister, der Konservative Boris Johnson, hatte bereits nach den Londoner Demonstrationen gegen den G-20-Gipfel, der unmittelbar vor dem NATO-Gipfel von Strasbourg und Kehl/Baden-Baden stattfand, gesagt: »Wenn man sich die nasenberingten Demonstranten anschaut, die sich heute in der Londoner City zusammenfinden, und hört, was sie sagen, ist eines klar: wie unklar ihre Botschaft ist. Sie haben keine Ahnung, was sie sagen wollen.«
Gleichsam als sei dies die Regieanweisung gewesen, zeigten die deutschen Fernsehsender von den Anti-NATO-Demonstrationen mit Vorliebe Leute mit großen Nasen- und Ohrringen. Dann kamen die Bilder von der brennenden früheren Zollstation am Rhein und von dem brennenden Hotel in Strasbourg, als hätte sich damit die inhaltliche Auseinandersetzung darüber erübrigt, ob und wozu wir überhaupt noch NATO brauchen. Erst später wurde hinzugefügt, daß Zollstation wie Hotel leerstanden. Die Vermummten, die dort eindrangen, wurden von der Polizei lange Zeit nicht gestört, und das Fernsehen konnte sie ausführlich filmen – ebenso ungestört, weder von der Polizei noch von den Vermummten. Auch die Feuerwehr hatte sich augenscheinlich Zeit gelassen. Am Ende hatten die bürgerlichen Medien die Bilder, die sie wollten, und niemand würde sich wundern, wenn mitgeteilt würde, die Täter waren die Agents provocateurs des französischen Geheimdienstes.
Dennoch wäre es falsch, jetzt alles wieder nur in die alten Schubladen zu ordnen, nach der Devise: Obama ordnet das Imperium neu, und dann ist nichts neues unter der Sonne. Vielleicht tut sich ja doch etwas. Von Strasbourg reiste Obama nach Prag. Dort hielt er eine bemerkenswerte Rede für eine atomwaffenfreie Welt im 21. Jahrhundert. Diese Idee hatte er als Kandidat bereits in seiner Rede in Berlin 2008 angedeutet, die Beobachter hatten das jedoch nicht recht ernstgenommen. Dies wäre ein tiefer Einschnitt in der gesamten US-Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg, würde es Wirklichkeit beziehungsweise tatsächlich zunächst Richtschnur für die US-amerikanische Außenpolitik.
Dazu braucht es den Blick in die Geschichte. Wie vieles in der Historie des 20. Jahrhunderts liegt die Wurzel des Übels in der deutschen Kriegspolitik. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Atomphysik rasante Fortschritte gemacht. In den zwanziger Jahren war Berlin das »Mekka der Physik«, aber auch in Kopenhagen, London, Paris und Moskau wurde an einer praktisch internationalen Forschung gearbeitet. Albert Einstein hatte nach der Machtübergabe an die Nazis das Land in Richtung USA verlassen. Zu ihm kamen im Sommer 1939 drei junge Atomphysiker, die ebenfalls aus Europa in die USA geflüchtet waren, um ihn zu bitten, einen Brief an USA-Präsident Franklin D. Roosevelt zu schreiben. Einige Monate zuvor war dem in Berlin verbliebenen Physiker Otto Hahn als erstem die Kernspaltung experimentell gelungen. Dann wurde der Krieg Hitlerdeutschlands zur Eroberung Europas Realität, und nichts lag näher als die Annahme, dieses Deutschland werde auch die Atombombe bauen. Einstein unterschrieb den Brief an Roosevelt, im März 1940 einen zweiten, dann wurde das US-amerikanische Atomprojekt gestartet. Die deutschen Physiker hatten die Atombombe nicht bauen können, auch weil der Widerstand in Norwegen und anderen Ländern ihnen die Mittel dafür nahm. Die USA aber hatten 1945 »die Bombe« und setzten sie gegen Hiroshima und Nagasaki ein, weniger mit Blick auf den japanischen Kriegsgegner als im Hinblick auf die kommende Auseinandersetzung mit der Sowjetunion.
Die USA bildeten sich ein, sie hätten für längere Zeit ein Atomwaffenmonopol. Doch die Sowjetunion zündete bereits 1949 die erste eigene Atombombe. Es folgte ein Wettrüsten um immer mehr Atomwaffen mit immer größerer Sprengkraft, zu dem dann auch die Wasserstoffbomben gehörten. Doch am Ende stand ein atomares Patt. Beide Seiten konnten die Welt mehrfach vernichten, einen Atomkrieg gegen die andere Seite aber nicht siegreich führen. So wurden Wege der diplomatischen Einhegung gefunden: ein internationaler Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen (1963), ein Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (1968) und schließlich die Verträge über die Begrenzung der strategischen Rüstungen zwischen der Sowjetunion und den USA. Zugleich hatten auch andere Staaten auf Entwicklung und Erwerb von Atomwaffen gesetzt, um als »Großmächte« global oder zumindest regional eine Rolle zu spielen: Großbritannien und Frankreich, dann China, schließlich Indien, Pakistan und Israel, Nordkorea.
Die politische Position der USA zum Thema Atomwaffen war immer ambivalent. Bereits mit dem »Baruch-Plan« schlug die US-Regierung 1946 vor, alle nuklearen Aktivitäten und Brennstoffe der Kontrolle der Atomenergiekornmission der UNO zu unterstellen. Wenn alle Staaten das täten, würden die USA auch ihre Kernwaffen abrüsten. Die Sowjetunion schlug statt dessen vor, die Atomwaffen zu verbieten und dann Kontrolle zu vereinbaren. Dazu wiederum waren die USA nicht bereit. So blieben für die USA die Atomwaffen immer unverzichtbar, was letztlich stets das Mißtrauen der anderen und das Wettrüsten beförderte.
George W. Bush hatte zuletzt die Vereinbarungen mit Rußland, die dieses von der Sowjetunion übernommen hatte, aufkündigen wollen, um eine erneute waffentechnische Überlegenheit der USA für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Dem hat Obama jetzt eine Absage erteilt. Mit dem russischen Präsidenten vereinbarte er in London, noch in diesem Jahr ein neues Abkommen über die strategischen Rüstungen zu schließen. Dann soll – so Obama in Prag – ein weltweiter Prozeß der Rüstungsreduzierung im nuklearstrategischen Bereich in Gang gesetzt werden. Vor diesem Hintergrund verhandelt es sich auch leichter mit dem Iran, dem Obama zugleich das Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie zugesichert hat.
Mitte der achtziger Jahre kam die Sowjetunion plötzlich und unerwartet in eine außenpolitische Offensive, weil sie auf viele frühere Positionen verzichtete. Am Ende war Gorbatschow aber nicht der Erneuerer, sondern der Abwickler der Sowjetunion. Die USA sind in einer solchen Position heute nicht. Obama gewinnt Spielräume durch Umgruppierung. Wenn daraus jedoch eine Welt herauskommt, in der es weniger Atomwaffen gibt als heute, und weitere Atommächte nicht entstehen, dann wäre dies eine bessere Welt. Vielleicht meint er ja tatsächlich, was er sagt.
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