von Wladislaw Hedeler
Nach Tagebucheditionen der letzten Jahre sind es nunmehr Autobiographien deutscher und österreichischer Kommunisten, die ins Blickfeld von Historikern rücken, die sich für Phänomene interessieren, die die Signatur des 20. Jahrhunderts prägten. Auch Christina Jung geht es um einen Blick hinter den »Eisernen Vorhang«, um ein konsistentes Bild vom Leben im Stalinismus.
Im ersten Teil des Buches wird die deutschsprachige (ex)kommunistische und jahrzehntelang beziehungslos nebeneinander stehende und die jeweilige Staatsdoktrin bedienende Erfahrungsliteratur im Kontext ihrer Produktionsbedingungen chronologisch vorgestellt: Die Spanne reicht von Weimar über die NS-Zeit bis hin zu den Publikationen, die in der BRD, der DDR beziehungsweise nach 1989 im vereinten Deutschland in den Buchhandel gelangten. Der zweite Teil des Buches ist thematisch gegliedert, die zentralen Problemkreise sind der Terror, das Lagersystem und der zwischen der UdSSR und Hitler-Deutschland geschlossene Pakt.
Ein Vorzug dieser Studie besteht darin, daß die Umstände, unter denen die Publikationen entstanden, berücksichtigt werden: In die Auswertung wurden sowohl die Bücher von Kommunisten als auch die von Ex-Kommunisten, die sich zwischen Literatur und Geschichtsschreibung bewegen, einbezogen. Mit der Öffnung der Moskauer Archive sind auch Dokumente ans Licht gekommen, die tradierte Zuordnungsmuster der Täter-Opfer-Perspektive – zu den spektakulärsten gehört wohl Herbert Wehner als Informant des NKWD – in Frage stellen.
Anzumerken ist auch, daß die einst »offiziell freigegebenen« Biographien in die DDR zurückgekehrter Emigranten präzisiert und fortgeschrieben werden müssen. So sind zum Beispiel die Gründe und Motive jener Politemigranten zu untersuchen, die nach kurzem Aufenthalt in der DDR »in den Westen« gingen. Viele veröffentlichte Biographien endeten bisher bekanntlich mit der Ankunft in der DDR, die so gesehen nur eine Zwischenstation war.
Im Kapitel über die alte Bundesrepublik werden Texte von Margarete Buber-Neumann und Susanne Leonhard als exemplarisch vorgestellt. »Eine gezielte Integration der politischen, antifaschistischen Emigration zur Gestaltung und Etablierung der neuen Ordnung dagegen, die die Parole vom ›Neubeginn‹ personell und ideologisch gestützt hätte«, habe aber im Westen kaum stattgefunden.
In der DDR war die Politik der Siegermacht zwar eine andere, doch ging mit dem »positiven Bezug auf das Exil« eine Ausblendung konstitutiver Aspekte einher. Eine Exilforschung im eigentlichen Sinne habe in der DDR nicht stattgefunden, für den damals in der DDR akzeptierten »Horizont« hätten die Bücher von Franz Dahlem, Trude Richter und Wolfgang Damerius gestanden.
Der Abschnitt über die nach 1989 (bis 2006) publizierten autobiographischen Texte und Kommentare fällt leider kürzer aus als erwartet. Nicht nur quantitativ, auch qualitativ fällt er hinter die vorhergehenden Kapitel zurück. Bedauerlich ist, daß das Thema Gulag aufgreifende Publikationen wie zum Beispiel Sergej Shurawljows Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion, Darstellungen wie Simone Barcks Antifa-Geschichte(n), Eike Stillers Büchlein über Karl Bühren oder Gerd Kaisers archivgestützte Schilderung des Lebensweges von Thüringer Facharbeitern unberücksichtigt geblieben sind.
Es hätte sich auch angeboten, die Reflexionen von Walter Ruge mit denen seines Bruders Wolfgang zu vergleichen. Auch die in Österreich und der Schweiz erschienene neuere Literatur – hierzu gehören zum Beispiel die Memoiren von Angelina Rohr oder die von Barry McLoughlin kommentierte Dokumentenedition über Österreicher im sowjetischen Exil – liefert den Beweis, daß es lohnt, die autobiographischen Texte unter Einbeziehung bisher unzugänglicher Archivdokumente weiter zu untersuchen. Die von den genannten Autoren begonnene Auswertung korrespondiert mit den von Christina Jung im Kontext der Kollektivbiographien benannten und aufgegriffenen neuen Forschungsfeldern und Fragestellungen. Es bleibt zu wünschen, daß eine entsprechende, der Intention der Autorin folgende Studie nicht lange auf sich warten läßt. Die Anknüpfungspunkte zu Publikationen wie der von Franziska Thun-Hohenstein zum Thema Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation liegen auf der Hand.
Christina Jung: Flucht in den Terror. Das sowjetische Exil in Autobiographien deutscher Kommunisten, Campus Verlag Frankfurt am Main 2008, 399 Seiten, kartoniert, 39,90 Euro
Schlagwörter: Christina Jung, Eiserner Vorhang, Stalinismus, Wladislaw Hedeler