Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 10. November 2008, Heft 23

Analphabetismus in Berlin

von Wolfgang Brauer

Am 23. Dezember 1988 startete in den Kinos der DDR ein Film, der sich im Osten der Stadt als Kassenknüller erwies: Er spielte in den Unterschichtenvierteln von New York City und erhielt seine DDR-Zulassung sicherlich auch, weil er so wunderbar die Morbidität des realen Kapitalismus zeigte. Allerdings wollten in jenen Monaten mehr und mehr DDR-Bürger ihn lieber in realiter als im Filmtheater »Kosmos« sehen. Wie auch immer, er wurde in den DDR-Kinos gezeigt: Arthur Hillers Teachers, gedreht 1984 mit Nick Nolte und Jo Beth Williams in den Hauptrollen.
Damals war ich Lehrer, ich verließ das Kino mit einem flauen Gefühl in der Magengegend: Weil so etwas unsereinem in unserem wunderbaren Land natürlich niemals passieren könne, ich mir aber aufgrund meiner täglichen Erfahrung so sicher nun auch wieder nicht war … Die Story: Lehrer verliebt sich in Anwältin, die gegen seine Schule prozessiert. Natürlich der übliche Schluß. Spannend aber die Auftaktsequenzen. Da erhält ein High-School-Schüler das Abschlußdiplom und kann weder lesen noch schreiben. Deshalb klagt er gegen die Schule. Herrlich, wie Hiller ein völlig demotiviertes und ausgebranntes Kollegium vor die Kamera bringt. An dieser Kino-Schule waren übrigens 2300 Schüler zugange. Noch einmal: Mir erschien es seinerzeit völlig aberwitzig, zehn Jahre eine Schule zu besuchen und sie als Analphabet zu verlassen.
Zwanzig Jahre später, am 15. August 2008, erschien als Drucksache 16/1687 des Abgeordnetenhauses von Berlin die Antwort des Bildungssenators Jürgen Zöllner (SPD) auf eine Große Anfrage der CDU »Analphabetismus in Berlin«. Senator Zöllner räumt ein, daß zirka vier Prozent der erwachsenen Berliner Bevölkerung nicht lesen und schreiben können: »Dies wären also rund 130000 Menschen. Dazu kommt noch eine nicht bestimmbare Zahl von Menschen, die nicht hinreichend über diese Kulturtechniken verfügen, um erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.« 130000 Erwachsene! Zu den Ursachen, für die auch seine Behörde mitverantwortlich ist, sagt der Senator nichts. Auch in der deutschen Hauptstadt lernt man Lesen und Schreiben immer noch in der Schule. Wenn man es lernt. Allerdings bringt Zöllner Behinderungen und soziales Umfeld, auch Migrationshintergründe behutsam ins Spiel: Eine »frühe Diagnostik von entwicklungsbedingten Bildungsrückständen« sei nur in Einzelfällen möglich, und »gesicherte Daten über sprachliche Fähigkeiten und auditive Behinderungen« seien nirgends vorhanden, und darum könne man auch nicht sagen, »wie sich die veränderten Sozialisationsbedingungen … auf den Lese- und Schreiberwerbungsprozeß der Schülerinnen und Schüler« auswirkten.
Wenn Sie, Leserin und Leser, das jetzt nicht verstanden haben sollten, müssen Sie trotzdem nicht befürchten, »funktionalem Analphabetismus« anheimgefallen zu sein. Die verschwiemelte Sprache wird hier absichtlich verwendet. Schließlich soll ausgeschlossen werden, daß jemand auf die Idee käme anzunehmen, daß an Berliner Schulen im Jahre 2008 Verhältnisse wie im Hiller-Film aus dem Jahre 1984 herrschen! 2300 Schüler in einer Schule? Über dreißig Schüler in einer Klasse? Nicht fachgerechte Vertretungen? Bei uns doch nicht! Denn Berlin stelle »in vielfältiger Weise« (O-Ton Jürgen Zöllner) Fördermöglichkeiten bereit, notfalls helfe auch das Internet den Analphabeten: www.ich-will-schreiben-lernen.de. »Derzeit sind 19000 Lernerinnen und Lerner online.« Wenigstens hat er den Satz ordentlich »gegendert«. Wenn schon eine politische Pleite beschönigt werden muß, dann wenigstens »politisch korrekt«.
Warum klagt in Berlin eigentlich keiner?