Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 27. Oktober 2008, Heft 22

Umbruchszeiten

von Erhard Crome

So also sieht im 21. Jahrhundert die Krise aus oder zumindest das, was davon bisher zu sehen ist. In den Talkshows sitzen Dutzende von Professoren, Unternehmerverbandsvertretern und Wirtschaftsjournalisten und erklären dem aufgestörten Publikum die Finanzkrise und deren Folgen: Sie sei weltweit, und die USA seien eigentlich hauptschuldig, weil dort die wohlfeilen Hypothekenkredite an Leute gegeben wurden, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten, anschließend die Banken aus den papiernen Schuldtiteln neue »Finanzprodukte« fabrizierten, die weltweit als Wertpapiere gehandelt wurden. Und dann brach das Ganze zusammen. Wie jedes Pyramidenspiel, das nach dem Schneeballprinzip aufgebaut wurde, könnte man sagen; nur das ist im Fernsehen so nicht zu hören. Wenn schon die Großbanken einander und dem von ihnen geschaffenen System mißtrauen, sollen wenigstens die Kleinsparer vertrauensselig bleiben, so das Ziel der öffentlichen Beruhigungstaktik. Der Radiomoderator sagt derweil den Titel von Roger Whittaker Wenn es dich noch gibt mit der Bemerkung an, dies sei die Frage des Kleinanlegers an seine Großbank. Während die neoliberale Propaganda die Köpfe der Mehrheit der Menschen nie wirklich erreichte, ist das Krisenbewußtsein längst Alltagskultur.
Von fast sechshundert Milliarden US-Dollar ist die Rede, die bereits ausgebucht werden mußten, darunter 340 Milliarden in den USA und 230 Milliarden in EU-Europa. (Das ist der Stand zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Textes.) Wenn das Heft beim Leser ankommt, sind es vielleicht tausend Milliarden. Dann können wir sicher sein, daß die Krise die sogenannte Realwirtschaft gepackt hat und damit unzählige Arbeitsplätze weltweit. Es könnte schlimmer kommen, sagen dann wieder die Talkshow-Professoren, und siehe: Es kommt schlimmer.
Die Großmedien, die noch bis gestern den Neoliberalismus als alternativlos predigten, verkünden heute sein definitives Ende. Als hätten sie es schon immer gewußt. Ebenso die Politik. Gordon Brown erklärt zur Begründung der Teilverstaatlichung der größten britischen Banken, das internationale Finanzsystem sei zusammengebrochen. Angela Merkel sagt, die soziale Marktwirtschaft sei »das beste Wirtschafts- und Sozialmodell, das es gibt«. Das gelte es nun in seiner internationalen Dimension zu gestalten. Norbert Blüm, ebenfalls CDU und einst sechzehn Jahre lang Kohls Arbeitsminister, zitiert in der Süddeutschen Zeitung sich selbst – den berühmten, später im Kabarett gern zitierten Satz: »Die Renten sind sicher« – jetzt im Präteritum: »Die Rente war sicher.« Dann aber »rückten die Finanzkapitalisten an – und redeten der Menschheit ein, Zocken sei lukrativer als Arbeiten«. Er verweist zu Recht darauf, daß 97 Prozent des weltweiten Finanzkapitals mit der Wertschöpfung in der Realwirtschaft nichts mehr zu tun haben. Aber hatte nicht auch schon die Kohl-Regierung mit den wirtschaftspolitischen Weichenstellungen in Deutschland zu tun? Mit »Rückgabe vor Entschädigung«, Privatisierung der Post, den »vier Freiheiten« in der EU, die die Wirtschafts- und Währungsunion, aber keine Sozialunion geschaffen haben, um nur einiges zu nennen?
Es ist an der Zeit sich zu erinnern, daß das Eigentum nach Marx Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen ist; »außerhalb dieser Beziehungen ist das bürgerliche Eigentum nichts als eine metaphysische oder juristische Illusion«. Was war eigentlich dieser Neoliberalismus? In den sechziger und siebziger Jahren, sozusagen am Ende des »Fordismus« – das heißt, des kapitalistischen Regulationssystems, das Massenproduktion, Massenkonsum, »Normalarbeitsverhältnisse« bei nahezu Vollbeschäftigung und Wohlfahrtsstaatlichkeit verband – hatte die Arbeiterschaft in Westeuropa und Nordamerika eine relativ starke Position erreicht.
Das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital war aus Kapitalsicht schädlich, weil es zu wenig Rendite ermöglichte. Der Thatcherismus in Großbritannien und die Reaganomics in den USA zielten darauf, die starken Gewerkschaften zu zerschlagen, es folgten die Privatisierungen und Deregulierungen, die Götzen des Neoliberalismus wurden. Die globalisierten Herrschaftsstrukturen – weltweit in der Welthandelsorganisation (WTO) und regional in der EU und ihren Maastricht-, Amsterdam- und Lissabon-Verträgen – taten ein übriges, um die national organisierten Gewerkschaften und politischen Parteien weiter zu schwächen.
Wenn wir die so entstandene Machtstruktur als gesellschaftliches Verhältnis denken, so fällt zunächst ins Auge, daß diese Entwicklung der Weltwirtschaft mit einer ständig wachsenden Zahl von Milliardären einherging, während es den meisten Menschen in Europa und Nordamerika bereits vor dem Ausbruch der Krise schlechter ging. Der kritische Ökonom Joseph Stiglitz verweist darauf, daß es selbst in den USA der Mehrheit der Menschen schlechter geht als vor acht Jahren.
Wie aber haben diese Verhältnisse funktioniert? Hans-Ulrich Jörges, Journalist beim Stern, machte bereits Anfang September, als die Krise erst ein Wetterleuchten war, auf die Diskrepanz zwischen den exorbitant wachsenden Manager-Jahresgehältern (Ackermann/Deutsche Bank 14,3 Millionen, Löscher/Siemens 11,5 Millionen usw.) und den Massenentlassungen aufmerksam. Als eine Ursache für das zerstörerische Funktionieren dieses Finanzsystems machte er die »Knute der Rendite« aus: Von 189 Dax-Vorständen in Deutschland sind 123 erstmals in einer Vorstandsposition, 35 Prozent scheitern schon in den ersten 18 Monaten. Deshalb würden die »Rundum-Sorglos-Pakete« geschnürt und »goldene Fallschirme« aufgespannt, die Versager auffangen. Wenn neunzig Prozent der Vergütung gewinnabhängig sind und am Börsenkurs hängen, passiert folgendes: »Wer morgen schon vor der Tür sitzen kann und so konditioniert ist, nimmt mit, was er greifen kann. Geht halsbrecherische Risiken ein … Generiert besinnungslos Wachstum, preßt und spart, beschädigt selbst Produkte.«
Bei Max Weber, dem Säulenheiligen der heutigen Sozialwissenschaften, hieß es noch, einer »der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes« sei die »rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, … geboren aus dem Geist der christlichen Askese«. In den einschlägigen, auf Weber fußenden Darstellungen zur Wirtschaftsgeschichte, die auch den BWL-Studenten zuweilen nahegebracht werden, wurde denn auch begründet, daß genau deshalb dieser Kapitalismus nur in Westeuropa entstehen konnte, nicht in China, Indien, dem Russischen oder dem Osmanischen Reich. Dort hätte die Gier der wirtschaftlichen Akteure wegen deren ungesicherter wirtschaftlicher und rechtlicher Lage eine sinnvolle Kapital-Akkumulation verhindert.
Die selbsternannten Herren der Welt, die jetzt gerade stürzen, glichen eher einem eingesetzten Pascha in einem osmanischen Paschalik als dem idealtypischen Kapitalisten nach Weber, der Voraussetzung eines funktionierenden Kapitalismus. Es waren schon sehr faulige Verhältnisse, die jetzt zusammenrutschen. Was aber wir dafür erhalten werden, ist offen. Das könnte gut sein, wenn es weltweit eine starke politische und soziale Alternative gäbe. So aber wirkt es eher bedrohlich. »Es sind jetzt gute Zeiten für Sozialisten«, sagte jemand zu mir. Vielleicht sind die Leute, die so denken und reden, ein Teil der Bedrohung, nicht der Hoffnung.