von Franz Schandl, Wien
Spekulation ist. Sie gehört zu den tagtäglichen Erledigungen aller Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Jedes Geschäft kennt ein spekulatives Moment. Jeder Preisvergleich, jede Werteinschätzung eines Produkts oder einer Leistung ist Spekulation. Jeder Kauf und jeder Verkauf muß und will kalkuliert sein. Die Spekulation hat sich also der guten (aber scheinbar hilflosen) Marktwirtschaft nicht von außen bemächtigt, sondern gehört zu ihr, ist von ihr untrennbar.
Schon der junge Engels schrieb: »In diesem fortwährenden Auf und Ab muß jeder suchen, den günstigsten Augenblick zum Kauf und Verkauf zu treffen, jeder muß Spekulant werden, d. h. ernten, wo er nicht gesäet hat, durch den Verlust andrer sich bereichern, auf das Unglück andrer kalkulieren oder den Zufall für sich gewinnen zu lassen. (…) Und möge sich der ehrliche, ›solide‹ Kaufmann nicht pharisäisch über das Börsenspiel erheben. (…) Er ist so schlimm wie die Fondsspekulanten, er spekuliert ebenso sehr wie sie, er muß es, die Konkurrenz zwingt ihn dazu, und sein Handel impliziert also dieselbe Unsittlichkeit wie der ihrige.« Die gleiche Unsittlichkeit ist freilich nichts anderes als die gemeine Sittlichkeit des Kapitals. Alle sind ihr unterworfen, bereits Adam Smith erkannte zu Recht, daß jeder »in einem gewissen Sinn ein Kaufmann« geworden ist.
Je weiter sich das Kapital von seinem Ursprung, der Produktion, also der Wertschaffungsebene wegbewegt, desto suspekter wird es dem Alltagsverstand. Bleibt das Warenkapital weitgehend unbehelligt, so gilt das kaufmännische Kapital als zumindest verdächtig, während dem Geldkapital bereits Haß entgegengebracht wird. Die Verhältnisse bleiben in solcher Darstellung unbegriffen, ja werden geradezu gegen mißliebige Exponenten derselben verteidigt. Nähe oder Ferne zur Produktion aber spricht weder für jemanden noch gegen jemanden. Das Verkürzte erkennt sich nicht im Verlängerten, während das Verlängerte sehr genau weiß, woher es kommt. »Die Spekulation versteht deswegen den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation«, ätzte ein gewisser Hegel.
Die fundamentale Unterscheidung in Börsenkapital und Kapital wird immer geläufiger. Aber sie trägt nicht. Sie ist ein populistischer Selbstläufer. Sie dividiert Unteilbares, vertraut letztlich auf das produktive gegen das spekulative Kapital, setzt einmal mehr auf das Schaffende gegen das Raffende. Indes und ganz dezidiert: Spekulant ist kein Schimpfwort! Tritt es als solches auf, dann schleppt es – ob es will oder nicht – einen antisemitischen Subtext mit sich herum. Eine Tragik der heutigen Zeit ist, daß die berechtigten Empörungen gegen das Kapital so derartig von dessen eigenen Ressentiments geprägt und geschädigt sind, daß dieses Aufbegehren eher Beiträge zur gesellschaftlichen Barbarisierung liefert, denn einen emanzipatorischen Schritt darstellt.
Spekulation und Spekulantentum sollen aus der Kritik nicht ausgenommen, sondern vielmehr einbezogen werden in einer gesamtgesellschaftliche Sozialkritik, deren Antikapitalismus sich nicht an oberflächlichen Aspekten abarbeitet und dadurch unrichtig wird. Bei der Kritik der Spekulation ist immer wieder die inhaltliche Rückbezüglichkeit zur kapitalistischen Totalität herzustellen. Wird die Spekulation sachlich isoliert und aus diesem Kontext entlassen, wird sie unweigerlich unerwünschte Resultate tätigen. Spekulation ist nicht schlimmer als der Markt, dem sie dient. Sie ist nicht seine Ursache, sondern eine seiner Folgen. Die Spekulation ist keine Erfindung verselbstständigter Spekulanten, sie bedient sich ihrer lediglich.
In einer strategischen Orientierung ist das große Kapital nicht gegen das kleine wie das kleine Kapital nicht gegen das große, das Geldkapital nicht gegen Warenkapital und das Warenkapital nicht gegen das Geldkapital zu verteidigen. Auch wenn es auf taktischer Ebene aktuelle Nuancierungen geben muß: Das Kapital ist anzugreifen, wo immer es ist. Dort, wo die Kritik des heißen Geldes zu keiner des Geldes überhaupt wird, dort, wo die Kritik von Zins und Dividende zu keiner Kritik des Profits aufsteigt und letztlich zu einer des Werts und des Tauschs führen kann, wird sie allerdings regressiv. Das Gemeine wird im wahrsten Sinne des Wortes gemeingefährlich. Jede linke Freude, daß es jetzt – nach den vielen Jahren ungeschminkter Vorherrschaft neoliberaler Ideologie – doch endlich zumindest gegen die Spekulanten geht, ist völlig fehl am Platze.
Jede Marktkalkulation ist eine Spekulation. Bei der Börsenspekulation ist das nur am meisten einsichtig, weil dort die Verwertung in ihrer abstraktesten Form (G-G’) auftritt, scheinbar jeder stofflichen Verunreinigung enthoben. Geld hat den Ballast des Warenkapitals abgeworfen, arbeitet hier angeblich selbsttätig. Die Perversion des Kapitals zeigt sich beim reinen Geldgeschäft am deutlichsten. Im Spekulanten erfährt dann dieses seinen professionellen Sonderstatus. Aber das ist es auch schon. Alles weitere ist Verdunkelung. Der aktuelle Kampf gegen die Spekulation ist ein antikapitalistischer Kampf für das Kapital.
Die Börsianer sind nur die überhitzten Rationalisten der großen Irrationalität des Kapitals. Die Börse ist nicht die inszenierte Böswilligkeit, die ein an sich gutes marktwirtschaftliches Dasein überwuchert, eine Art Fremdkörper oder Geschwür, das man einfach abschneiden oder entfernen könnte, und alles wäre wieder im Lot. Gerade das suggeriert aber eine Kritik, wie sie heute vom Links-Keynesianismus bis zum Rechtsextremismus am Neoliberalismus geleistet wird. Das Gefährliche der verkehrten Argumentation liegt gerade darin, daß sie billige Feindbilder bedient und einfache Rezepte verspricht. Der Kapitalismus wird gegen die Kritik immunisiert, indem man bestimmte Kapitalisten zum Abschuß freigibt. Das ist nichts anderes als der sich abzeichnende Mainstream vorgibt: »Wir wollen einen Kapitalismus der Unternehmer, nicht der Spekulanten«, sagte Nicolas Sarkozy am EU-Krisengipfel Anfang Oktober in Paris.
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