von Jens Knorr
Nachdem die Partitur seiner Oper Puntila sieben Jahre lang in der Dramaturgie der Komischen Oper um und um gewendet worden war, ohne daß sich Walter Felsenstein, dem sie gewidmet war, zu einer Aufführung entschließen konnte, entschloß sich nun seinerseits der Komponist Paul Dessau, die Rechte zurückzuverlangen und die Uraufführung an die Berliner Staatsoper zu geben. Die Inszenierung durch Ruth Berghaus im Jahre 1966 wurde zu einem Markstein in der Geschichte der Opernregie. Dem »realistischen Musiktheater« Felsensteins und dem Neu-Bayreuth Wieland Wagners war die Gegenposition erwachsen: ein Musiktheater, das auf ein dialektisches Zusammenspiel eigenständiger »Schwesternkünste« zielte und Methoden entwickelte, die Komplexität der Musik szenisch zur Darstellung zu bringen, welches der Begriff des »epischen Musiktheaters« nur ungenügend beschreibt. Sigrid Neef hat 1994 den bei Mussorgski entlehnten Begriff »opéra dialogué« vorgeschlagen.
Es war – ausgerechnet! – ein 11. September, der des Jahres 1983, an dem Paul Dessaus als Schulstoff zu Tode behandelten Oper in zwölf Szenen Die Verurteilung des Lukullus an der Deutschen Staatsoper Berlin eine triumphale Aufführung erlebte wie seit ihrer Uraufführung zu Zeiten der Formalismusdebatte nicht mehr. In ihrer dritten Inszenierung der Oper hatte Ruth Berghaus, getreu der Maxime Alban Bergs, das Werk als einen Klassiker gelesen, der wie ein modernes Werk, und als ein modernes Werk, das wie ein Klassiker zu inszenieren sei.
Zum ersten Mal wurden die Fabeln hinter der einen Fabel von dem Feldherrn Lukullus, der sich vor seinen Opfern im Totenreich zu verantworten hat, erzählt, gemeinsam, einander überlagernd, die Geschichte eines Toten auf seinem Gang zu den Müttern und im Kampf um seinen Namen, die Geschichte eines Triumphfrieses, der Abgebildeten und ihrer Abbildungen, eines Totengerichts, seiner Schöffen und seiner Sprecher, tote Kinder aus den Kinderkreuzzügen aller Zeiten, der Auseinanderfall des Gerichts über den Opportunismus seiner Mitglieder, schließlich der Triumph des Angeklagten über Tote und noch nicht Tote. Es war die Zeit der atomaren Hochrüstung mit dem von USA und Sowjetrußland visierten Kriegsschauplatz Deutschland. Der Schauplatz: auf und unter der Reichsautobahn. Zum ersten Mal auch wurden die Schichtungen der vermeintlich einfach gestrickten Partitur hör- und sichtbar gemacht, Zitat und Gegenzitat von Gattungsgeschichte als Sozialgeschichte, Entgegen- und Ineinssetzung von Musiziermustern und Musiziersphären. Und ihre Schönheit!
Gesetzte Standards in Erinnerung zu rufen, gibt es allen Grund. Denn nun hat doch noch eine Oper Paul Dessaus Einzug in die Komische Oper gehalten, wenn auch nicht Puntila, sondern Lukullus – oder jedenfalls das, was Regisseurin Katja Czellnik, Bühnenbildner Hartmut Meyer, die Kostümbildner Nicole Timm und Sebastian Figal und Dirigent Eberhard Kloke dafür halten.
Von der fünften und endgültigen Fassung der Partitur, für die Kloke beim Pressegespräch die mißgestalte Fassung der Komischen Oper ausgab – meinte er die Leipziger Fassung von 1957 oder die Berliner von 1960? –, kann allerdings keine Rede sein. Nicht allein, daß durch Weglassen zwar nachkomponierter, jedoch dramaturgisch wichtiger Szenen die musikalische Architektur vor die Hunde geht, obendrein wird bar jeden musikalischen Verständnisses auch innerhalb der Szenen die musikalische Faktur manipuliert, wird gestrichen und umgestellt und eine läppische »Trautonium-Adaption« mit »Musikmaterial« Paul Dessaus hinzukomponiert. Die Art und Weise der musikalischen Zurichtung, die einer unautorisierten sechsten Fassung gleichkommt, beraubt Dessaus Musik aller Widerständigkeit gegen die Szene und zieht sie auf jenes Niveau herunter, auf dem Regie über sie triumphieren zu können vermeint – diese Runde im Kampf gegen die Dummheit in der Musik und den musikalischen Analphabetismus ging verloren.
Der Schauplatz: eine herunterklappende Wand, als Projektionsfläche für allgemein gehaltene Filmprojektionen zu Begräbnissen von Diktatoren und Massenmanifestationen geeignet, dahinter eine silbern glänzende Luftkissenkonstruktion, »Zelt der Solidarität«, die sich nicht selbst zu tragen vermag und vage an Manfred Stolpes Cargo-Lifter-Millionengrab oder an das Innere eines umgefallenen Fernsehapparats erinnern mag, drinnen Pappkameraden und Schießbudenfiguren aus Film und Werbung, Einfälle die Menge, szenisch tragende keine. Die Hinzufügungen der Regie fügen dem Stück außer irreparablen Schäden gar nichts hinzu, ihre Weglassungen immerhin bewahren das Weggelassene vor Nivellierung. Ein bißchen Totalitarismuskritik, ein bißchen Medienkritik, ein bißchen Frieden, ein bißchen Krieg, nichts von Bedeutung.
Die Chorsolisten der Komischen Oper sind von der Bühne verbannt, dafür sorgt der Bewegungschor für Czellniksches Psychotherapiegruppenflair. Irgendwie wirken alle heruntergekommen, ebenso tot wie lebendig, ebenso geschäftig wie unorganisiert, Hauptsache: authentisch. Was sie aber ausstellen, ist das Authentizitätsgehabe einer Regie, die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt scheint, um den Schritt in das Nichtauthentische, in das beliebige Sein – wohlverstanden nicht als ein gleichgültiges, sondern als ein gleich gültiges, allgemein beliebendes Seiendes – je zu wagen.
Kor-Jan Dusseljee, am Premierenabend indisponiert, spielt und singt den Lukullus in uns allen und die Partie des Kochs gleich noch mit, Erika Roos würdigt die Wahnsinnskoloraturen der vergewaltigten Königin zu unterhaltendem Ornament herab, die anderen, darunter Jens Larsen als Totenrichter und Koch, wurschteln sich mit Forcieren und Chargieren durch Partitur und Szene. Musikalisch schlichtweg überfordert sind Schauspielerin Gabriele Maria Schmeide mit der Partie des Fischweibs und Schauspieler Markus John mit der des Kommentators, die aus Tertullia, der alten Frau, Sprecher des Totengerichts, Ausrufer und Kommentierender Frauenstimme gesamplet wurde.
Ach, hätte man doch die Partitur des Lukullus noch sieben biblische Jahre in der Dramaturgie um und um gewendet, bis man sich sicher wäre, sie so aufführen zu können, wie sie aufgeführt werden muß – oder eben nicht. Aber dann hätten wir das jenseitig schön gesungene Terzett der drei Frauenstimmen, die gründlich studierten Chöre und andere wirkungsmächtige Momente der Partitur wie den großen Appell des Nachspiels jetzt nicht vernehmen können, der sich für Paul Dessau selbstverständlich mit der Partei verband, die ihn nie verwirklichen sollte: eS – E – D, seid einig Deutsche.
Die nächsten Vorstellungen: 14., 20. Januar, 1. Februar, 24. Juli 2008
Schlagwörter: Jens Knorr, Katja Czellnik, Oper, Paul Dessau, Ruth Berghaus