von Walter-Thomas Heyn
Fontane? Die Romane, die Gedichte, die Autobiographie: Im Bücherschrank stehen sie alle. Gelesen? Ja, damals, vor vielen Jahren, dies und das … Nein, alles nicht. Aber die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, ja klar. Die natürlich.
So ging es auch mir. Bis vor zirka sechs Jahren die Luft für Musiker dünner zu werden begann. Kammermusikreihen wurden eingestellt, Kulturvereine reduzierten ihre Veranstaltungen, Brecht, Heine, Neue Musik gar: »Kommen Sie uns bloß nicht mit so was. Ach, Sie haben ein kleines Fontane-Programm? Ja, da könnten wir natürlich …« Mittlerweile habe ich vier Fontane-Programme und hoffe, als Kenner zu gelten. Selbst Abseitiges (Fontane als Opernkritiker) kann ich auswendig zitieren. Was das mit den Wanderungen des Altmeisters zu tun hat? Nun, die Programme »gehen« halt genau an den Orten, die er besucht und in dem Text Havelland beschrieben hat: »Linow, Lindow, Rhinow, Glindow, Beetz und Gatow, Dreetz und Flatow, Bamme, Damme, Kriele, Krielow, Petzow, Retzow, Ferch am Schwielow, Zachow, Wachow und Groß Behnitz, Marquardt-Uetz an Wublitz-Schlänitz, Senzke, Lenzke und Marzahne, Lietzow, Tietzow und Reckahne. Und zum Schluß in dem leuchtendem Kranz: Ketzin, Ketzür und Vehlefanz.«
Belzig fehlt in der Aufzählung, dort aber begann Ende Oktober die Tournee.
Der Ort ist nicht der Rede wert. Er weist immer weg von sich auf die allgegenwärtige Therme hin. Brandenburger Nieselwetter und die frühe Stunde verhinderten jede Art Kuscheligkeit. Vergessen wirken diese Orte, müde, alt und verbraucht. Und doch wohnen da immer noch Leute. Ein Teil des weiblichen Teils hatte sich in der Springbachmühle (bitte die Umgehungsstraße Richtung Therme nehmen) zum Frauenfrühstück der evangelische Kirche getroffen. Dreiviertel neun Uhr morgens mußten wir Musiker die ersten Noten spielen. Dann Frühstück, dann Vorträge über das Glück. Daß es beständige Glückskiller gäbe, erfahren wir, daß Glück nicht von außen komme, sondern von innen, daß es beständig neu und von jedem selbst erarbeitet und immerzu verteidigt werden müsse. Daß Glück letzten Endes aus dem Glauben kommt, war klar.
Wir hören aber auch einen außerordentlichen Satz, nämlich: »Glück ist das Ergebnis einer Tätigkeit.« Diese kluge Erkenntnis verdanken wir Aristoteles, der sie 300 Jahre vor Christi Geburt niederschrieb. Auf das Heute angewendet, wäre festzustellen, daß all die, denen die Arbeit genommen wurde, damit auch noch strafverschärfend die Möglichkeit eingebüßt haben, Momente des Glücks als Ergebnis ihrer Tätigkeit zu erfahren. Diese Seite der Arbeitslosigkeit ist vermutlich verheerender als das immerzu zu knappe Geld – sie zerstört die Persönlichkeiten der Betroffenen direkt und nachhaltig. Aus den Söhnen dieser Opfer werden sich später wieder Rollkommandos und Sturmtrupps bilden.
Beim Frauenfrühstück wurde Glück eher beschrieben als romantischer, stiller Moment: die Parkbank am Fluß, der Genuß eines Apfels, die Freunde, die Kinder, die Freude über Kleinigkeiten, über Unverhofftes. Solcherart Tugenden verbreiteten auch meine Mutter und meine Großmutter, und natürlich stimmen sie alle. Frei nach Brecht könnte man sich aber auch fragen, ob da nicht Menschen in ungemütlichen Zuständen befähigt werden sollen, sich etwas gemütlicher einzurichten.
Über Werder ging die Fahrt. Der literarische Reisebegleiter doziert dazu: »Der König, selbst ein Feinschmecker, mochte unter den ersten sein, die anfingen, eine Werdersche Kirsche von den üblichen Landesprodukten gleichen Namens zu unterscheiden. Außer den Kirschen aber war es zumeist das Strauchobst, das die Aufmerksamkeit des Kenners auf Werder hinlenkte. Statt der bekannten Bauernhimbeere, wie man ihr noch jetzt begegnet, die Schattenseite hart, die Sonnenseite madig, gedieh hier ein Spezies, die, in Farbe, Größe, und strotzender Fülle prunkend, aus Gegenden hierher getragen schien, wo Sonne und Wasser eine südliche Brutkraft üben. Werders Ruhm, sein Glück begann mit jenem Tage, wo der erste Werderaner (ihm würden Bildsäulen zu errichten sein) mit seinem Kahne an Potsdam vorüber- und Berlin entgegen schwamm. Damit brach die Großzeit an.«
Etwas weiter ab liegt Geltow. Dort war vierzig Jahre lang auf dem Franzensberg das Heim des Komponistenverbands Hanns Eisler beheimatet. Fünfzehn Zimmer (für tausend Mitglieder), Kammermusiksaal, Bibliothek, Tischtennisplatte, Federballplatz, Hausmeister, Köchin. Nach der Wende verkaufte der Verband das Haus an eine Bank und hoffte, damit für zehn Jahre sein Auskommen zu haben. Die Bank zahlte die erste, lächerlich geringe Rate und kam ins Grundbuch. Dann brannte das Haus bis auf die Grundmauern nieder. Der Verband bekam nichts. Er war nicht mehr grundbuchfähig, denn er war mit sich selbst nicht identisch, befanden einige Potsdamer Richter. Die Versicherungsprämie ging an die Bank. Die ungeteilte jüdische Erbengemeinschaft, Sitz New York, und die Nachfolger der Nazi-Besitzer klagen beide noch auf Rückgabe. Das Haus ist Ruine bis heute.
Die Caputher Autofähre bringt uns nach Petzow: »Wie Buda und Pest oder wie Köln und Deutz ein Doppelgestirn bilden, so auch Caputh und Petzow. Sie gehören zusammen. Zwar ist die Wasserfläche, die die beiden letzteren voneinander trennt, um ein Erhebliches breiter als Rhein und Donau zusammengenommen, aber nichtsdestoweniger bilden auch diese beiden ›Residenzen‹ diesseits und jenseits des ›Schwielow‹ eine höhere Einheit. Sie ergänzen sich. Caputh ist ganz Handel, Petzow ganz Industrie. Dort eine Wasserstraße, eine Werft, ein Hafenverkehr, hier die Tag und Nacht dampfende Esse, das nie verlöschende Feuer des Ziegelofens. Schönheit der Lage ist beiden gemeinsam, doch ist Petzow hierin weit überlegen.«
Zur Fontane-Lesung nach Petzow eingeladen wurde ins historische Waschhaus. Die Leute kannten die Texte, ein Teil sprach leise mit. Niemals habe ich Veranstaltungen dieser Art in den für uns immer noch neuen Bundesländern erlebt. Es ist das aufrichtige Bemühen um Kunst und Kultur, der alte Kulturbund-Gedanke, der lebendig geblieben ist in den Landstrichen des Beitrittsgebietes, und der mit zäher Freundlichkeit und Geduld verteidigt und im Rahmen der Möglichkeiten weitergepflegt wird. In Petzow ist übrigens auch Zelter geboren, der Gründer der Berliner Singakademie und der erste Komponist Goethes. Es gibt edel geprägte Erinnerungsmünzen mit seinem Konterfei zu kaufen. Das legendäre Schriftstellerheim hat es immerhin zu einer Schautafel im Waschhaus gebracht. Darunter liegen frisch gestärkte, rot und blau bestickte alte Schürzen und Handtücher und ein altes Modebuch zum Selbernähen: zwei Seiten Herrenmode, zwei Seiten Kindermode, hundert Seiten Frauenmode. Anhang: moderne Kleidungsstücke für die Frau, vierzig Seiten. Es gibt Dinge, die sich nie ändern. Aber das ist ein zu weites Feld.
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