von Klaus Hammer
Die Wut der Bilder heißt die Bernhard-Heisig-Ausstellung der Nationalgalerie im Martin-Gropius-Bau Berlin. Aus dem Jahr 1977 stammt ein Schlüsselbild Heisigs: Beharrlichkeit des Vergessens. Die deutsche Geschichte als wüstes Schlacht- und Trümmerfeld mit einem Verstümmelten als Zentralfigur, der seinen Orden wie eine Trophäe schwenkt, einem das Helikon blasenden Narren mit Schellenkappe, zwei Liebespaaren inmitten der Kriegs- und Mordszenen, zu denen auch ein Zitat aus Otto Dix’ Kriegstriptychon gehört. Die Uhr im Hintergrund zeigt fünf Minuten nach zwölf an, und über der ganzen Szene spannt sich ein Transparent: »Wir sind doch alle Brüder und Schwestern«.
Der erste Eindruck von verwirrender Turbulenz klärt sich zunehmend, wenn man den wie Planeten kreisenden Details folgt und die Form- und Farbsignale zu entschlüsseln sucht. Das klaustrophobisch in einen engen Bühnenkasten eingezwängte Geschehen drängt hinaus in den Raum, so der Narr, der sich aus dem Bild hinausbeugt, oder der Krüppel, der aggressiv seinen Beinstumpf hinausstößt und unter das Auge des Betrachters hält. Was hat es möglich gemacht, über zwei Weltkriege hinweg so ohne weiteres weiterzuleben? Welche Mechanismen der Erinnerung, der Verdrängung, der Betäubung und des Vergessens waren dabei beteiligt?
Das Weltgetriebe erscheint hier als Welttheater, als Simultanbühne in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, im Wechsel von Nah- und Fernsicht, in der Disproportionalität der Größenverhältnisse, im zwanglosen Ineinandergreifen der Bildmotive. Heisig läßt die Verführten wie die Verführer agieren, und er ist selbst zutiefst in seine Bilder verstrickt. Denn die leuchtenden Bilderbögen, zentrale Werke aus mehr als vierzig Schaffensjahren, die nach Stationen in Leipzig und Düsseldorf jetzt in Berlin gezeigt werden, bringen auch Heisigs Autobiographie als exemplarisches Schicksal ins Spiel. Der Maler ist in Selbstbildnissen präsent, mischt sich bezeugend, beschwörend und kommentierend ein. Er ist Opfer und Täter zugleich, betreibt Tiefenpsychologie, um nach dem Warum zu fragen, malt mit geradezu selbstquälerischer Intensität die Bilder, die ihn nicht loslassen.
Mit sechzehn Jahren hatte er sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet und war dann bei der Waffen SS, hatte an der Ardennenschlacht und an den Kämpfen um die zur Festung erklärte Heimatstadt Breslau teilgenommen, kehrte als Kriegsinvalide zurück. Er wurde Marxist, aber wegen seiner Geschichts- und Fortschrittsskepsis getadelt, war wiederholt Rektor an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, wurde abgelöst und später wieder zurückgeholt, bekam immer mehr Schwierigkeiten mit den politischen Dogmatikern. Aus seiner Schule sind – auch im Widerstreit mit ihm – namhafte Künstler hervorgegangen, so seine Meisterschüler Hartwig Ebersbach, Hubertus Giebe, Walter Libuda, Werner Liebmann, Trak Wendisch.
Nach der Wende wurde er als »Staatsmaler« diffamiert und zog sich 1992 in das havelländische Dorf Strodehne zurück. Als aber ein Bildnis von Helmut Schmidt für das Bundeskanzleramt angefertigt werden sollte, wählte dieser gerade Heisig als seinen Porträtisten. Im Reichstag fordert Heisigs Zeit und Leben zur Auseinandersetzung mit der unteilbaren deutschen Geschichte auf, auch wenn die Sichtbarkeit des Bildes auf den Innenbereich der Caféteria der Bundestagsabgeordneten beschränkt ist.
Heisigs Bilder sind bis zum Zerreißen gespannt. Sie sind in aufsteigender und quälender Erinnerung Realität und Traum – meist Alptraum – in einem: Ineinander verschachtelt, wie Kulissenräume zusammen- und wieder auseinandergeschoben. Sie treten in neue Verbindungen und Kontroversen, fügen sich zu wildbewegten Panoramen, tumultuarischen Labyrinthen, verwandeln sich in ein Spiegelkabinett mit wechselnden Durchblicken und Synthesen, rasen in schwindelerregender Karussellfahrt durch die Zeiten, heben sich ins Sinnbildhafte, Metaphorische, Universale.
In seinem politischen Welttheater beschwört Heisig die Traumata seines Jahrhunderts in figurenreichen Zeitallegorien. Leitmotivische Bildsignale, disparate visuelle Fragmente werden gleich einem Puzzle, in wechselvollem Rollenspiel immer wieder neu zusammengesetzt. Ganze Konglomerate von Versatzstücken und Bedeutungsträgern türmen sich wie ein Müll- und Schrotthaufen der Geschichte auf. Figuren und Gegenstände aus ganz unterschiedlichen Wirklichkeits- und Zeitebenen, aus der Mythologie und Religion, der alten und neuen Geschichte, unserer Epoche und ihrem Alltag, aus den Menschheitsträumen und den Träumen des Künstlers begegnen sich im Bildraum: Ikarus, Christus, Faust, Gulliver, der Zauberlehrling und die Seeräuberjenny, Friedrich II. und Hänschenklein, Bischöfe, Ketzer, Kommunarden, Militaristen, Kriegskrüppel, Napalm-Opfer, Prostituierte, Stars, Narren, Kasper und die Puppen, Selbstmörder, Liebespaare, die Mutter des Malers und immer wieder er selbst; der Turmbau zu Babel, die Arche Noah, das Narrenschiff, die brennende Stadt Breslau, Totentanz und Geisterbahn, Trompeter und Lautsprechersäule, hochgetürmte Fernsehgeräte, Panzer und U-Boote, Gewehrläufe und Stahlhelme.
Wieder und wieder arbeitet Heisig an seinen Bildern; würde man sie ihm nicht entziehen, wäre er auf ihre ständige Korrektur, Veränderung und Vervollkommnung bedacht. Das fünfteilige Gemälde Gestern und in unserer Zeit, das Heisig seinerzeit in noch unfertigem Zustand aus der Hand gegeben und das seit 1974 in der SED-Bezirksleitung Leipzig gehangen hatte, war nach der Wende in einer brandenburgischen Garage wiederentdeckt worden. Die bildnerischen Kompromisse, die er seinerzeit mit der Macht geschlossen hatte, wollte Heisig nun rigoros überarbeiten.
Zwei Tafeln versah er mit neuen Sinnschichten und Varianten, an die Stelle des »Brigadiers« setzte er die düstere Figur des »Pflichttäters«. Doch der neue Eigentümer des Bildzyklus’, die Nationalgalerie, verweigerte ihm die Bearbeitung der anderen Tafeln, und im Zorn begann er ein neues Werk, das er schließlich Menschen, Kriege, alter Maler (2002/ 03/04) nannte. Wenn man das Bild heute betrachtet, ist sein historischer Wert durch die Teilrevision nicht beeinträchtigt worden, doch an künstlerischer Qualität hat es zweifellos gewonnen.
Er könne »keine stillen Bilder malen«, hat Heisig bekannt und die Äußerung eines Betrachters überliefert, selbst wenn er Blumen male, schlügen die noch aufeinander ein. Nichts sei spannungslos und nur von glücklicher Dauer. Die Schrecken der Menschenwelt ließen sich auf jeder Wiese, der Riß, der durch die Schöpfung geht, hinter jedem Gartenzaun aufspüren. Alles sei ein Gleichnis für alles, die Pariser Commune genauso wie die Dorfstraße im Regen.
Martin-Gropius-Bau Berlin, Niederkirchner Straße 7. Mittwochs bis montags 10 bis 20 Uhr, dienstags geschlossen. Bis 29. Januar. Katalog 23 Euro
Schlagwörter: Bernhard Heisig, Klaus Hammer