Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 31. Januar 2005, Heft 3

Heinrich Manns Kriegstagebuch

von Fritz Klein

Die Hitlerdiktatur«, schrieb Heinrich Mann im Frühjahr 1933, »wird verständlich allein im Hinblick auf den Krieg schlechthin … Alle Taten der Hitlerei, jetzt, da sie an der Macht ist, bekommen ihren Sinn erst, wenn man an den nächsten Krieg denkt.« Sechs Jahre später erwies sich, wie richtig der aus dem Land getriebene Schriftsteller geurteilt hatte – der Satz allein müßte seinen vielen Gegnern zu denken geben, die nicht müde werden, den militanten Humanisten der Unwissenheit, Realitätsferne und politischen Blindheit zu bezichtigen. Eine Woche nach dem Überfall von Hitlers Wehrmacht auf Polen, am 8. September 1939, begann Heinrich Mann im französischen Exil mit der Niederschrift eines Tagebuchs, von Aufzeichnungen, in denen er das Zeitgeschehen in dem von ihm vorausgesagten Krieg kommentierte und zu analysieren versuchte. Er führte sie bis in den August 1940, als er Frankreich verlassen mußte und unter abenteuerlichen Umständen über Spanien und Portugal in die USA flüchtete. In Amerika bemühte er sich um eine Veröffentlichung als Buch. Dafür wählte er den von September bis Dezember 1939 reichenden Teil der Aufzeichnungen, dem er einen im Frühjahr 1941 geschriebenen »Rückblick vom Jahre 1941 auf das Jahr 1939« als ersten Teil voranstellte. »Zur Zeit von Winston Churchill« nannte er das Ganze, ruhte doch seine Hoffnung nach den deutschen Siegen auf dem Kontinent auf dem Widerstandswillen Großbritanniens. Noch standen weder die Sowjetunion noch die USA im Krieg. Eine Publikation kam zu Lebzeiten Heinrich Manns nicht zustande. Durch Vermittlung Feuchtwangers gelangte sein literarischer Nachlaß in den fünfziger Jahren nach Prag zu seiner Tochter Leonie, die den Nachlaß der Regierung der C˘SR schenkte, mit der Maßgabe, ihn der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (DDR) zu übereignen, wo Alfred Kantorowicz ein Heinrich-Mann-Archiv aufbaute. In den achtziger Jahren begann Sigrid Anger, die Leiterin dieses Archivs und Herausgeberin der im Aufbau-Verlag erscheinenden Reihe Gesammelter Werke von Heinrich Mann, aus den Materialien des Nachlasses einen authentischen Text zu erarbeiten. Nach der Vereinigung der beiden Berliner Kunstakademien zu einer Akademie der Künste erhielt sie von deren Präsidenten Walter Jens den Auftrag, den Text für die Publikation vorzubereiten. Die ist nun auf der Grundlage der »Textkonstitution und Vorarbeiten von Sigrid Anger« in der von Peter-Paul Schneider im Verlag S. Fischer betreuten Reihe der Werke Heinrich Manns erschienen. Herausgegeben von dem Leipziger Historiker Hans Bach, der ein umfangreiches instruktives Nachwort, hunderte von kompetenten Sachanmerkungen sowie ein hilfreiches Register beisteuerte, liegt eine vorbildliche Edition vor.
Hatte Bruder Thomas in seinem Tagebuch noch am 30. August gemeint, die Lage neige sich »durchaus und zweifellos« zum Frieden, »da Hitler, wie ich immer wußte, den Krieg nicht führen will und kann« und zwei Wochen danach notiert, es werde gut sein, »die unabsehbare Entwicklung des Krieges, seine Wechselfälle und Schrecken in meiner Princetoner Library verfolgen u. abwarten zu können«, so stürzte sich Heinrich nach dem Überfall auf Polen gedanklich sogleich leidenschaftlich ins Getümmel. »Tanzen über Abgründen ist mehr wert als nichts von ihnen zu wissen«, hatte der Sinnspruch gelautet, den er vor Jahren einem Kalender zum Thema »Kunst und Leben« anvertraut hatte. Was nun entstand, war ein bewegendes Zeitzeugnis ganz eigener Art, quälende Bemühung eines großen deutschen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts, seinen Platz zu bestimmen in den Kämpfen der Zeit. Auf den schließlichen Ausgang des Krieges, die Niederlage des von ihm mit Zorn und Verachtung beschriebenen Hitlerregimes, baute er fest. Wie aber sollte sie erreicht werden? Die Hoffnung scheint auf, daß der deutsche Widerstand, an dem Heinrich Mann im Rahmen des deutschen Volksfrontkomitees in den dreißiger Jahren führend mitgearbeitet hatte, sich in einer Revolution gegen die Hitlerdiktatur erheben würde. Frankreich, geliebt seit Jahrzehnten als Land der großen Revolution und der großen Literatur, werde mit der Wahrheit siegen, als freies Volk, mit der letztlich unbesiegbaren Waffe der Menschlichkeit.
Verzweifeltes Nachdenken geradezu gilt der Sowjetunion, gesehen seit Jahren als stärkste und international einzig konsequente Gegenmacht zum Faschismus, und nun, wie es scheint, sein Partner. England schließlich, im vorangestellten ersten Teil, die letzte Hoffnung. Europa werde bestehen, weil England gekämpft hat, glaubt er und setzt, weit entfernt von blindem Wunschdenken, mit klarem Blick auf das Kräfteverhältnis nach den deutschen Siegen auf dem Kontinent hinzu: »Sicher ist nichts, und siegen kann jeder, seine sittliche Unwürdigkeit würde ihn nicht hindern. Aus Lügen werden durch längeren Gebrauch – nicht Wahrheiten, aber Tatsachen.«
Frei von Wunschdenken, realitätsfernen Illusionen, ja politischer Blindheit war der Text nicht. Wie anders ist zu verstehen, daß Mann den Deutschen, die er zwar als Untertanen schalt, wie er sie in seinem Roman geschildert hatte, doch eine revolutionäre Erhebung gegen die angeblich von 90 Prozent ihrer »Volksgenossen« abgelehnte Nazidiktatur zutraute, daß er wochenlang ernstlich am Erfolg der Armeen Hitlers über das kleine Polen zweifelte, daß er die Schwäche und mangelnde Kampfbereitschaft Frankreichs als Tugend bewußter Zurückhaltung aus Menschlichkeit und Gerechtigkeitsgefühl mißdeutete. Schwer zu schaffen machte ihm der Pakt, den Stalin mit Hitler geschlossen hatte. Er ist empört und tief enttäuscht, zitiert zustimmend die vernichtenden Urteile im internationalen Echo von Stalin als Nachfolger des »älteren Terroristen Tschingiskan«, dem »Schakal im Kreml« (Trotzki), vom Bündnis zweier sich gegenseitig betrügender Despoten gegen die zivilisierte Welt. Bei alledem spürt man, wie schwer es ihm fällt, sich von der seit Jahren gehegten Idealvorstellung der Sowjetunion als der humanistischen Zielen verpflichteten, »vorgeschrittensten Demokratie« zu trennen. In allen harten Worten schwingt im Untertext die Frage mit, ob man sich das wirklich alles so vorstellen müsse, alle Versprechungen nur als einzige Täuschung? So versucht er auch, dem Pakt irgendetwas Gutes abzugewinnen, wenn er etwa den Vormarsch der Sowjettruppen in Polen als Rettung zweier polnischer Provinzen vor dem Schlimmsten bezeichnet. Und beim Krieg gegen Finnland, den er nun selbst, fraglos, als imperialistischen Akt brandmarkt, versucht er, sich wenigstens einen Rest früherer Ideale noch mit der unsinnigen Vorstellung zu bewahren, die Entscheidung in der Sowjetunion gehe »von den Civilisten Stalin und Molotov auf Militärs über«.
So falsch es wäre, Fragwürdigkeiten wie die erwähnten – und es sind nicht die einzigen – aus Sympathie mit dem revolutionären Demokraten Heinrich Mann zu übersehen, so falsch wäre es, aus dem entgegengesetzten Gefühl das Buch nur oder auch nur vorwiegend nach ihnen zu beurteilen. Seite für Seite finden sich kluge Beobachtungen, erhellende, nachdenkliche Reflexionen. Er ist sich seiner Sache gewiß, weiß aber um ihre Gefährdung: »Wie schwer macht uns allen der Krieg, klar zu sehen und dennoch fest auf Seiten der erwählten Seite zu stehen«. Er ist sich auch seiner Irrtümer bewußt, nutzt den Rückblick aus dem Jahre 1941 zu mancher Korrektur, ändert seinen Text aber nicht: »Die Irrtümer sind wörtlich stehen geblieben, ich bereue sie nicht. Die Irrtümer sind, was am reichlichsten lohnt. Gegen die augenfällige Wirklichkeit gehalten, zeigen sie, wer wir waren und warum.« Wie gute, vernünftige Wortmeldungen zu heutigen Debatten klingen die Mahnungen, die er den künftigen Siegern ins Stammbuch schreibt, ihren Sieg zum Bau menschlicherer, gerechterer Zustände in Europa und der Welt zu nutzen. Es lohnt, Heinrich Mann zu lesen. Sehr zu begrüßen wäre die Veröffentlichung auch der Aufzeichnungen von Januar bis August 1940.

Heinrich Mann: Zur Zeit Winston Churchills, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2004, 543 Seiten, 22,90 Euro