27. Jahrgang | Nummer 20 | 23. September 2024

Das Argentinien Javier Mileis

von Achim Wahl

Seit Jahren befindet sich Argentinien in einem politisch-wirtschaftlich instabilen Zustand. Neoliberale Regierungen verschuldeten sich in Milliardenhöhe und schwache peronistische Regierungen fanden keinen Ausweg.

Javier Milei, der die Präsidentenwahl 2023 gegen den Kandidaten der peronistischen Regierungspartei Sergio Massa mit 55,7 Prozent der Stimmen gewann, trat im Dezember 2023 als Präsident an. Noch im gleichen Monat erließ Milei das präsidiale “Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit“ (DNU). Es hebt über 300 Gesetze auf oder ändert sie. Dem DNU folgte das Dekret „Grundgesetz und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier“ (Ley Bases). Sowohl das Gesetz DNU wie auch das Grundgesetz sehen Deregulierungen, Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, in der Arbeitswelt, im Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungswesens vor. Staatsbetriebe sollen in Aktiengesellschaften umgewandelt und ausländischen Unternehmen zum späterem Verkauf angeboten werden. Beide Dekrete sind das Herzstück der Schocktherapie, mit der Milei Argentinien verändern will. Er kehrt damit zurück in die Jahre des Neoliberalismus. Ziel ist die Veränderung der institutionellen Grundlagen der Gesellschaft und die Minimierung der Rolle des Staates. Beide Dekrete leiten eine radikale Abkehr von der sozial orientierten Politik der peronistischen Regierungen ein.

Mileis Ausweg: Übergang zur Austeritätspolitik durch Senkung der Sozialausgaben, Verringerung der Mittel für die Provinzen, Senkung der Ausgaben für öffentliche Projekte, Verringerung der Subsidien für Transport- und Energiesektor und für Bildung- und Gesundheit. Damit wird versucht, die Inflation (276 Prozent im Jahr) zu reduzieren, ohne die sozialen Folgen zu beachten.

Mit der Abwertung des Peso um 54 Prozent und der Freigabe von Exporten erhalten Konzerne Lithium oder Fracking-Gas zu Schnäppchenpreisen – Selbstbedienung für Milliardäre und Freunde von Ex-Präsident Macri und Milei. Die Preise für Basisgüter sind um 60 Prozent gestiegen. Die Rezession verringert die Steuereinnahmen um 16 Prozent. Der „Motorsägenplan” Mileis führte zur Reduzierung der Industrieproduktion um 12,4 Prozent. Die Weltbank prognostiziert einen Rückgang des BIP um 3,5 Prozent. Nach Angaben der Katholischen Universität Argentiniens hat sich die Armut um 10,8 Prozent erhöht (zirka 25 Millionen Menschen). Die Neuregelung von Arbeitsverträgen schafft zunehmende Arbeitslosigkeit. Entlassen wurden rund 20.000 Staatsangestellte.

Die Beratungen des „Grundgesetzes” (Ley Bases) im Kongress und Senat Mitte Juni, in denen Milei mit seiner Partei “Die Freiheit schreitet voran” keine Mehrheiten hat, fanden unter erheblichen Druck statt. Der Senat stimmte dem Gesetz zu, im Kongress gab es heftige Gegenwehr. Sie wurde hart unterdrückt. Das Gesetz wurde mit 36 Stimmen dafür und 36 dagegen durch die Stimme der Vizepräsidentin Victoria Villarruel angenommen. Nach Artikel Eins des Gesetzes kann der Präsident einen Wirtschafts-, Finanz- und Energienotstand für ein Jahr ausrufen. Er erhält umfassende Vollmachten. Als Kompromiss für die Streichung weitergehender Forderungen ausgehandelt, entmachtet sich der Kongress selbst. Rund ein halbes Jahr nach Amtsantritt bedeutete die Verabschiedung des Gesetzes einen Erfolg für Milei.

Das Gesetz bevorteilt multinationale Unternehmen. Als Lockmittel für Großinvestitionen im Bergbau, in der Landwirtschaft und im Energiesektor ist für ausländische Unternehmen die Möglichkeit bis zu 200 Milliarden US-Dollar auf der “Basis des freien Regimes für große Investitionen” vorgesehen. Sie erhalten Zusagen, dass ihre Gewinne niedrig besteuert werden. Es gibt keine Beschränkungen für die Einfuhr von Ausrüstungen und Maschinen. Exportgebühren entfallen und Unternehmen können nach dem dritten Jahr ihrer Tätigkeit über ihre Exportgewinne frei verfügen. Zugesichert wird ihnen auch freier Zugang zu Wasserressourcen und Energie. Für die nächsten dreißig Jahre unterliegen sie keinerlei gesetzlichen Beschränkungen. Damit werden territoriale Konflikte entstehen, wird ein extraktives Wirtschaftsmodell durchgesetzt, die Demokratie abgebaut und ein repressiver Staat aufgebaut.

Im Januar fand ein erster Generalstreik statt. Während der Debatte im Senat lieferten sich Polizei und Demonstranten offene Straßenschlachten. Die eingeleitete Schocktherapie hat die Aktionen und Proteste gegen diese Politik verstärkt. Der Generalstreik am 8. Mai und die Kundgebungen der Studenten gegen die Privatisierung der Hochschulen sind Ausdruck der zunehmenden Protesthaltung der Argentinier. Mehr als 1300 Menschen in mehr als 300 Gerichtsverfahren wurden verurteilt.

Für die Mehrheit der Bevölkerung gibt es nichts zu gewinnen. „Es wird jetzt erst einmal schlimmer, bevor es besser wird“, lautet das neoliberale Credo. Zur Feier des Unabhängigkeitstages am 9. Juli wurde eine weitere Etappe der politischen Veränderungen durch Erpressung und Korruption abgeschlossen, in der ein breites Spektrum politischer Kräfte dem „Maipakt“ (Pacto de Mayo) zustimmte. Mit diesem Pakt wurde die grundsätzliche Ausrichtung auf die Veränderung der Grundlagen der argentinischen Gesellschaft und der Offizialisierung der Repression, des Terrors gegen Gegner im Interesse der neuen politischen Klasse und des Kapitals beschlossen.

Zur Unterzeichnung des Paktes waren alle Gouverneure geladen. 18 von 24 unterzeichneten diesen Pakt. Die politischen Kräfte, die sich im Maipakt wiederfinden, sind die gleichen, die den Staat, die Legislative und das Justizwesen beherrschen. Sie ordnen sich zur Disziplinierung der Gesellschaft den Forderungen des IWF unter. Der mit dem IWF existierende Vertrag, abgeschlossen durch die neoliberale Regierung Macri, über einen Kredit von 44 Milliarden US-Dollar wird zum siebten Male neu bewertet. Der IWF begrüsste die Abwertung der argentinischen Währung zur Stabilisierung der Wirtschaft. Nach Angaben des IWF befindet sich Argentinien auf dem richtigen Wege.

Milei nutzte das Davos-Forum zur Selbstdarstellung und erklärte, dass die westliche Welt in Gefahr sei. Er zeigte sich als Vertreter der ultraliberalen Ideologie, die von dem rechten Atlas Network vertreten wird, das von Ronald Reagan gegründet und von Margaret Thatcher weiter geführt wurde.

Mit der Regierung Milei erfuhren die internationalen Beziehungen Argentiniens eine abrupte Wende. Abgelehnt wurde die Möglichkeit, sich den BRICS anzuschließen. Dagegen wurde die Einladung zur Aufnahme in die OECD angenommen. Im April 2024 entsandte Milei den Verteidigungsminister nach Brüssel zur NATO (Argentinien ist seit 1998 wichtiges Nicht-Nato-Mitglied, Major non NATO-ally) mit dem Auftrag, die NATO-Mitgliedschaft zu sondieren.

Milei missachtet internationale Regeln. Er bezeichnete den Präsidenten Brasiliens Luiz Inácio Lula da Silva als „korrupten Kommunisten“ und „idiotischen Dinosaurier“. Er attackierte den Präsidenten Kolumbiens Petro als „Unrat-Sozialisten” und „kommunistischen Mörder”. Milei erklärte, keine Reise nach China zur Verhandlung der Schulden unternehmen zu wollen. Die Einladung Macrons zur Eröffnung der Olympischen Spiele lehnte er ab. Was weniger Verwunderung hervorrief, war seine Weigerung an den Gesprächen des MERCOSUR am 8. Juli 2024 in Assunción (Paraguay) teilzunehmen.

In Brasilien wird erklärt, dass gute Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen Staaten Vorrang haben, und das Verhalten Mileis wird nicht kommentiert. Milei provozierte das offizielle Brasilien mit der Teilnahme am Treffen der „Politischen Konferenz der Konservativen Aktion“ (CPAC) in Camboruí (Brasilien) im Juli, dem größten Treffen der extremen Rechten in der Geschichte Lateinamerikas, bei dem er sich auch mit Jair Bolsonaro traf.

An Treffen rechter Kreise wie der VOX in Spanien oder den USA (Steve Bannon) nimmt Milei teil und holt sich dort gern „Auszeichnungen“ rechter und libertärer Kräfte ab. So wurde Milei am 22. Juni in Hamburg von der rechtslibertären Hayek-Gesellschaft mit der Hayek-Medaille geehrt. Die Gesellschaft sieht ihn als „leuchtendes Beispiel für die Kraft liberaler Ideen“.

Hier zeigt sich, wie sich neoliberale Think-Tanks und Intellektuelle sowie deren Finanzgeber global organisieren. Milei verteidigt den Kapitalismus und den kapitalistischen Staat in seinem militaristisch-polizeilichen Aspekt. Sein Projekt ist ein überhitzter, später Neoliberalismus mit ultrarechten Untertönen, das scheitern wird, weil es nicht auf die Bedürfnisse der neuen multipolaren Welt eingeht.