27. Jahrgang | Nummer 13 | 17. Juni 2024

Unterwegs in Usbekistan – lückenhafte Depeschen

von Alfons Markuske, notiert in Chiwa

Von Taschkent gelangen wir per anderthalbstündigem Flug in die Provinzhauptstadt Urgench im mittleren Westen Usbekistans und von dort per Bus nach Chiwa, einer geschichtsträchtigen Oasenstadt in einer Wüstengegend, dicht an der Grenze zu Turkmenistan.

Die Gründungslegende der Stadt verweist auf einen Süßwasserbrunnen, der zur Ansiedlung bewog. Nach diesem Cheiwak-Brunnen, der zwar versiegt, jedoch noch vorhanden ist, wurde die Stadt benannt. Archäologen datieren die ältesten Fundamente mindestens auf das fünfte Jahrhundert nachchristlicher Zeit zurück. Noch ältere Keramikfunde legen allerdings eine deutlich frühere Besiedlung nahe. Heutige Bebauungen erschweren es, diese Fragen abschließend zu klären.

In früheren Jahrhunderten war die nur etwa 400 mal 720 Meter messende Altstadt von Chiwa – zu Beginn der 1990er Jahre weltweit eine der ersten, die komplett als Weltkulturerbe der UNESCO eingestuft wurden – den wechselnden Herrscherhäusern und dem Adel vorbehalten. Eine mächtige, sieben bis acht Meter hohe, mit Lehm und Stroh verputzte, weitgehend erhaltene Stadtmauer (Gesamtlänge etwas über zwei Kilometer) schirmte das Areal von der Außenwelt ab – mit je einem Zugangstor aus jeder Himmelsrichtung.

Der Wehrgang unterhalb der Mauerzinnen kann erklommen und begangen werden. Unser usbekischer, ausgezeichnet Deutsch sprechender Reiseleiter Akmal warnt vor typisch usbekischen Stufen – extrem hoch und als Treppen nicht selten ebenso steil. Wo man auf solche stoße, sei entsprechende Vorsicht angeraten. Innerhalb der Mauer stößt man allenthalben auf heute museale historische Medresen, was mit Koranschule nur unzureichend übersetzt ist, weil es sich häufig um eher hochschulartige Einrichtungen handelte, auf Moscheen, Minarette und Paläste.

Vom prachtvoll restaurierten Westtor laufen wir direkt auf den über und über mit grün-türkisen Fliesen geschmückten Turm Kalta Minor zu, auch das „Kurze Minarett“ genannt. Seine knapp 15 Meter Basisdurchmesser lassen vermuten, dass das sich traditionell nach oben verjüngende Bauwerk eine Höhe von deutlich über 100 Metern erreichen sollte. Minarette dienten in der Vergangenheit keineswegs nur den Muezzins für ihre fünfmal täglichen Rufe zum Gebet. Sie demonstrierten vielmehr auch den Reichtum und die Macht ihrer Erbauer, dienten den Karawanen, die in der Wüste unterwegs waren, als Orientierungspunkte und ermöglichten die „Fernaufklärung“ sich nähernder Feinde.

Im Falle des Kalta Minor wurde das Baugeschehen bei 28 Metern lichter Höhe abgebrochen. Eine wahrhaft eindrucksvolle Investruine. Durch einen hoch oben angebrachten schmalen überdachten Übergang ist der Minarett-Rumpf mit der benachbarten Amin-Khan-Medrese verbunden.

Zu den beeindruckendsten Bauten in Chiwas Altstadt, zu denen uns Akmal führt, gehört zweifelsohne das Pachlawan-Machmud-Mausoleum. Dieser Pachlawan (zu Deutsch Held), der von 1247 bis 1326 lebte, gilt als Schutzheiliger der Stadt. Von Beruf ursprünglich Kürschner reüssierte er vor allem als Arzt, Dichter und ungemein erfolgreicher Ringer. Nur ein einziges Mal soll er einen Kampf verloren haben. Freiwillig, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass seinem Gegner im Falle von dessen Niederlage der Tod drohte …

Nur wenige Fußminuten entfernt vom Pachlawan-Machmud Mausoleum befindet sich die Dschuma-Moschee. Und wer schon einmal eine der größten Moscheen der Welt, die Mezquita im andalusischen Córdoba, mit deren Bau im Jahre 784 begonnen worden war, besucht hat, wird sich beim Betreten der Moschee in Chiwa sofort an die andalusische Schwester erinnert fühlen – der gleiche archaische Moscheetyp: eine nach außen hin durch Mauerwerk abgeschlossene Halle von beeindruckenden Ausmaßen, deren kuppelloses Dach von einer unüberschaubaren Schar von Säulen getragen wird. In Córdoba wurden steinerne (Jaspis, Marmor, Onyx, Granit), überwiegend aus Gebäuden der Römerzeit entnommene verwendet. Insgesamt 856 Stück auf einer Grundfläche von über 23.000 Quadratmetern. Demgegenüber misst die Grundfläche der Dschuma-Moschee lediglich etwas über 2500 Quadratmeter, doch auch hier bietet sich dem Auge ein Wald – in diesem Fall aus 250 hölzernen und üppig mit Schnitzornamenten versehenen Säulen.

Zwei Farben beherrschen das architektonische Antlitz der Altstadt von Chiwa – blau (für Himmel und Paradies) und grün (die Lieblingsfarbe Mohammeds, des Propheten). Viele Fassaden sind großflächig mit blauen Fliesen samt endlos ineinander übergehender abstrakt-symbolischer Ornamente verkleidet. Die Kuppeln von Gebetshäusern und Mausoleen leuchten häufig in besonders sattem Grün.

Aus der Stadtmauer, aber immer wieder auch aus dem Mauerwerk der oberen Geschosse innerstädtischer Gebäude, ragen bis zu anderthalb Meter lange verwitterte Aststücke heraus, gern auch mehr oder weniger krumm. Akmal klärt über den darin sich manifestierenden Aberglauben auf: Böse Geister befallen nur fix und fertige Gebäude, weswegen der Eindruck dauerhafter Unfertigkeit vermittelt werden soll …

Immer mal zwischendurch und bei passenden Gelegenheiten eine Geschichtslektion von Akmal. So erreichte die Sowjetmacht, die die Leninschen Bolschewiki, beginnend mit dem Oktoberputsch von 1917 in Sankt Petersburg, im ehemaligen zaristischen Reich errichteten, Zentralasien erst im Jahre 1922. Bis dahin war Chiwa noch einer der größten Sklavenmärkte der Region, und Recht gesprochen wurde nach der Scharia. Ertappten Dieben wurden folglich erst Finger abgehackt und im Wiederholungsfall ganze Hände. Deserteure wurden gepfählt, und auch Ehebrechern drohte die Todesstrafe. Während in letzteren Fällen das Leiden von Frauen vergleichsweise kurz ausfiel – sie wurden in einen Sack gesteckt und von einem Minarett geworfen –, wurden Männer bis zum Oberkörper eingegraben und anschließend gesteinigt. Aber nicht mit großen Kalibern und nicht hintereinander weg. Die Tortur zog sich tagelang hin. Auch mit entlaufenen Sklaven machte man kurzen Prozess: Sie wurden bei lebendigem Leibe kopfüber begraben, damit die sichtbar bleibenden Füße die Art des Vergehens demonstrierten.

Ehen wurden zu jener Zeit grundsätzlich gestiftet. Dazu lehrte man Mädchen die Kunst des Webens und Bestickens von Teppichen. Mit einem besonders schönen Exemplar ging das Familienoberhaupt auf Suche nach einem Bräutigam. Sagte der Teppich einer interessierten Familie mit Sohn zu, konnte über die Mitgift verhandelt und die Hochzeit ausgerichtet werden. Irgendwann bekamen sich auch die jungen Leute zu Gesicht. (Dieses traditionelle Verfahren gebe es in Einzelfällen, sagt Akmal, auch in Usbekistan wieder, im streng islamischen Nachbarstaat Turkmenistan sei es durchgängige Regel.) Dass die Sowjetmacht diese Traditionen rigoros beendet hat, gehört sicher nicht zu den Verfehlungen und Schlimmerem, das ihr auch in Zentralasien vorzuwerfen ist.

Sichtlich stolz ist Akmal, wenn er über wissenschaftliche Koryphäen aus sehr alten Zeiten spricht, die aus Gegenden stammten, die auf dem Gebiet des heutigen Usbekistans liegen – wie etwa al-Chwarizmi aus Choresm, einer Landschaft südlich des arg geschrumpften Aralsees. Al-Chwarizmi lebte von etwa 780 bis maximal 850, die meiste Zeit davon in Bagdad, der Hauptstadt der Abbasiden-Kalifen, und war Universalgelehrter, Mathematiker, Astronom und Geograf. Er führte die Ziffer Null aus dem indischen in das arabische Zahlensystem und damit in alle modernen Zahlensysteme ein. Zugleich gilt er als einer der Begründer der Algebra. Eine sehr viel spätere lateinische Ausgabe einer seiner Schriften lautete: „Algoritmi de numero Indorum“ (Rom, 1857), woraus später der Begriff Algorithmus als Bezeichnung für genau definierte Rechenverfahren abgeleitet wurde.

Auf der Busfahrt zu den etwa 100 Kilometer von Chiwa entfernt liegenden archäologischen Grabungsstätten der antiken Lehmfestungen von Ayaz Kala und Toprak Kala am Rande der Wüste Kyzyl Kum stehen in den Ortschaften vor Wohnhäusern, teils auch direkt am Straßenrand, sehr häufig Tandure, die ursprünglich aus Indien stammenden landestypischen Lehmbacköfen. Dickwandig und halbkugelförmig, anderthalb Meter im Durchmesser und etwas über einen Meter hoch, werden sie durch die Öffnung am oberen Scheitelpunkt mittels Strauchwerk von abgeernteter Baumwolle beheizt. Ist die Backtemperatur erreicht, werden Fladenbrote oder köstliche mit Fleisch oder vegetarisch gefüllte Piroggen an die Innenwand des Ofens gedrückt, wo sie haften bleiben, bis sie durch sind. Dann werden sie mit einem hölzernen Gerät, das einem Spachtel mit überlangem Stiel nicht unähnlich ist, von der Wand gelöst und mit einer Art Kescher aufgefangen.

In Ayaz Kala, seit etwa 1300 Jahren nicht mehr bewohnt, und Toprak Kala verwundert der laxe Umgang mit den Altertümern – keine vorgegebenen Wege, keine Absperrungen. Besucher können sich ungehindert auf den Arealen bewegen. Allerdings gehen auch nichtmenschliche Gäste mit den Artefakten nicht eben schonend um. In Ayaz Kala hat eine Kolonie Bienenfresser hunderte von Bruthöhlen in die ehemalige Festungsanlage gegraben. Ihr schrilles Rufen begleitet die Touristen …

Wird fortgesetzt.

Bisher erschienen: Taschkent, Blättchen 12/2024.