21. Jahrgang | Nummer 6 | 12. März 2018

Die rhythmischen Triebkräfte der Natur

von Klaus Hammer

Der Saxdorfer Maler, Grafiker und Gartengestalter Hanspeter Bethke ist nach längerer Krankheit im Alter von 82 Jahren verstorben. Ich wollte ihn im Frühjahr in seinem Gartendomizil wieder besuchen – nun komme ich zu spät, werde nur noch an seinem Grab stehen können.
Vor fast 50 Jahren war der gebürtige Magdeburger, der an der Burg Giebichenstein in Halle studiert hat und dann als Maler und Baurestaurator tätig war, in der Pfarre von Saxdorf (Landkreis Elbe-Elster) ansässig geworden. Er hatte damals das Stallgebäude zum Atelier umgebaut und zusammen mit Pfarrer Karl-Heinz Zahn den verwilderten Obstgarten zu einem wundersamen „Künstlergarten“ entwickelt, der seitdem Besucher von nah und fern anzieht. Mit mehr als 200 einheimischen und exotischen Gehölzen, 25 Bambussorten, einer Vielzahl alter Strauchrosen, Stauden und Kakteen und anderen botanischen Raritäten ist hier ein „Kunstwerk“ entstanden, das ihm ein virtuelles künstlerisches „Labor“ wurde, dessen Sinneseindrücke ihm neue Sichtweisen eröffnet, seinen Blick für Farbwerte und die Beziehungen zwischen den Farben geschärft haben.
Im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten, von Wetter und Lichtverhältnissen lieferte der Garten die unerschöpflichen Motive für seine Bilder. „In der Qualität unterscheide ich nicht zwischen meinen gemalten Bildern und den mit Pflanzen gestalteten Räumen des Gartenkunstwerkes Saxdorf. Beide sind sowohl Bilder nach innen wie nach außen. Yin und Yang im besten taoistischen Sinn. Lebendige Beispiele des Buches der Wandlungen!“ sagte Bethke. Yin und Yang sind in ihrer jeweiligen periodischen Ab- und Zunahme und ihrem Zusammenspiel Manifestationen des Tao, das in der Ordnung und Wandlung alles Seienden zum Ausdruck kommt.
Tatsächlich können Bethkes Blumen- und Gartenbilder als „Simulationen“ mit einer Fülle von Sinnenreizen, die ein Garten ausstrahlt, gedeutet werden. Schatten werden nicht mehr als Grauflächen gezeigt, sondern als Blau-, Grün- oder Violett-Töne, um so das von ihnen reflektierte Licht zu berücksichtigen. Es scheint so, als wollte der Künstler das Visuelle auch ertastbar machen, indem er die Grenzen der Simulation erweiterte. Sein Zeichnen und Malen kann als synästhetisches Zusammenspiel auf psychischer Ebene betrachtet werden. Baudelaire hat es so formuliert, dass „Düfte, Farben und Töne einander entsprechen“. Die leichten Pinseltupfer der Dahlienblüten suggerieren gleichzeitig den Duft, die Textur und die Farbe der Blumen. So erweist sich der Garten als emotionale Kraft, die den seelischen Zustand und das Wohlbefinden des Betrachters – und des Gärtners – zu beeinflussen vermag. Gärten – so ist Hanspeter Bethke wohl zu verstehen – sollen zur Genesung der Seele dienen.
Sein Credo: „Ich will malen, Farben und Formen nach eigenen Intentionen komponieren. Ich will Stimmungen und Atmosphäre erzeugen, seelische Empfindungen ausdrücken – eine Kunstwelt organisieren, die nur auf sich selbst bezogen ist.“ Bethke ließ sich vom Spiel der Formen und Farben tragen, um in deren Verlauf durch raffinierte Technik – mit Öl, Tempera, Wasserfarben, Wachsstift und Wachskreide, als Wachsaquarell auf Papier, auch Packpapier, gewaschen, das heißt auf dem Papier zerfließend, dann wieder in Liniengespinste eingehüllt, als Linolschnitt, kombiniert mit Aquarell und Silber auf Papier – lenkend einzugreifen. Er erfand Strukturen im Ungeformten, und das Ungeformte selbst richtete sich in bestimmten Strukturen ein. Die menschliche Figur, das Porträt ist selbst eine Struktur und Strukturen unterworfen, die er immer wieder neu erfand. Das imaginäre Bildnis führt ein grafisches Eigenleben. Von einem zarten Liniengespinst durchzogen, wird der kaum begonnene Rhythmus immer wieder geändert und durch eine Gegenbewegung aufgehoben. Das Ergebnis ist eine seltsam irisierende, flimmernde Zuständlichkeit. Hier wurde mit Freudscher Tiefgründigkeit eine Vivisektion betrieben, um das Innerste der Figur, deren inneren Seelenzustand zu erkunden.
Hanspeter Bethke beherrschte die Formensprache eines doppelbödigen Humors, der leise Ironie, skurrilen Spott, betroffen verstummendes Lachen und intensiv mitleidendes Gefühl zu vereinen vermochte. Er griff zumeist ein banales Sujet aus der Alltagswirklichkeit auf, und indem er den Begriff des Sujets in der Wörtlichkeit seiner eigenen Sprach- und Formgebung darstellte, transformierte er ihn in eine ironische Distanz der Verfremdung, die ebenso die Phantasie anregt als auch das kritische Sehen ermöglicht. Die Vielfalt des Lebens suchte er als simultanes Gespinst von Formen, Farben, Linien und gestischen Rhythmen durch eine breite Skala von Artikulationsgebärden und Ideenassoziationen zu erschließen. Die gewöhnlichen Dinge – so die allgegenwärtige Tragetasche – können durch die Reizung unseres Vorstellungsvermögens seltsame, der Logik widersprechende Bilderketten heraufführen. Ein merkwürdiges Eigenleben besitzen „Fingertasche“ (1999), „Fußtasche“ (1999), „Messertasche“ (1999), „Pinseltasche“ (2000), „Rosentasche“ (2000) – eine blaue „Kreuztasche“ (2000) mit rotem Kreuz auf gelbem Grund kann ebenso Hilfsbereitschaft, Zuwendung gegenüber dem anderen signalisieren, aber auch das sprichwörtliche Kreuz bedeuten, das jeder für sich zu tragen hat. Die Dinge können auch bei voller Bewahrung ihrer materiellen Realität durch Vertauschung, Verknüpfung oder Isolierung einen ganz unerwarteten Beziehungsreichtum gewinnen.
In seinen Zeichnungen, Tempera-Arbeiten, Aquarellen, Collagen und seiner Druckgrafik figurierte er mit instinktiver Formulierungspräzision und naiver Einfalt die rhythmischen Triebkräfte der Natur: „Form mit Schraffur“ (1987, Tempera auf Papier), „Runde Form“ (1989, Tempera auf blauem Packpapier), „Blaue Form“ (1996/2000, Linolschnittfarbe mit Aquarell und Silber auf Papier), „Amorph mit Grün“ (2000, Druckfarbe, Wachsaquarell, Tempera auf Papier), „Amorph mit Gelb“ (2000, dieselbe Technik), „Form“ (2000, Linolschnittfarbe mit Aquarell und Silber auf Papier). Die einfache biomorphe Arabeske wurde zum Symbol der rhythmischen Naturmetamorphose, die aus dem unaufhörlichen Wechsel des organischen Auflebens und Vergehens stets neue gestaltliche Profilierungen hervorbrachte. Aber Bethke formierte – ähnlich der erzählenden Chiffrenmalerei Paul Klees – auch Kompositionen aus figuralen Bildmetaphern, die als unmittelbare „Entäußerungen“ der Phantasie entsprungen sind und nun in der Wirklichkeit „dingfest“ gemacht werden.
Was präsentierte der Künstler? Landschaftsformationen, Blumen- und Gartenbilder, Fenster als Verbindungsglieder von Innen und Außen, amorphe Form- und Farbgebilde, liniengebündelte Figurationen, abstrakte Köpfe, Dinge, wie die genannten „Tragetaschen“, die ein merkwürdiges Eigenleben führen. Mit diesen Elementen, wie traumhaft zu einem präzisen Bildaufbau zusammengefügt, beschwor Bethke seine Wirklichkeit. Seine Bildzeichen assoziieren in knappster Form Elemente, die im Wachstum wie Abbau begriffen sind, fast kalligraphisch zu verstehende Liniengespinste, in denen die Erfahrung von Anziehung, Verschmelzung, Abstoßung zum Ereignis wird. Man glaubt, der Sekundenbruchteil eines fließenden Prozesses sei festgehalten, dessen zeitliche Verschiebung sofort eine veränderte Konstellation ergeben müsse. Was in den Umrissen der Figur anklingt, tönt als Echo in den begleitenden Formen wider, sensibel die Grundgestalt modulierend. Mit dem fast halluzinatorischen Auftauchen der Figuren aus dem Nichts wird auf ein grundsätzliches Anliegen der Malerei Bethkes verwiesen, das Echo figürlich-menschlicher Formen auch in gegenstandslosen Gebilden wiederzufinden und zu identifizieren.
Sein Werk wird in seiner Gänze erst noch richtig zu entdecken und in unsere Kunstlandschaft einzuordnen sein.