von Peter Linke
Ende Januar vor genau zehn Jahren flimmerte ein Film über russische Bildschirme, der für erhebliche Kontroversen sorgte: Untergang eines Imperiums: Byzantinische Lehrstunde. Sein Autor: Bischof Tichon (Schewkunow) – einflussreicher Kirchenfunktionär, Bestsellerautor und Putin-Vertrauter.
Tichons zentrale Botschaft: ein großflächiger Vielvölkerstaat müsse ein starker Staat sein, denn nur als solcher könne er zentrifugalen Kräfte entgegenwirken sowie neidvolle Nachbarn auf Abstand halten. Im Falle des Byzantinischen Reichs seien dies „unzivilisierte Westeuropäer“ (Deutsche, Angelsachsen, Franzosen) gewesen, die durch die gnadenlose Plünderung Konstantinopels (1204) den Grundstein für die eigene westliche Zivilisation gelegt hätten.
Der Absolvent der Moskauer Filmhochschule (WGIK) sah dabei durchaus Parallelen zum heutigen Russland: Der Kampf der Staatsbürokratie gegen das „Oligarchentum“, die „Orangene Revolution“ in der Ukraine, die Notwendigkeit einer Stärkung der „Machtvertikale“ – all dies erinnerte stark an jene Probleme, mit denen sich Konstantinopel hätte herumschlagen müssen.
Natürlich rief er damit umgehend liberale Kritiker auf den Plan. Wie Sergei Iwanow vom Institut für Slawistik der Russischen Akademie der Wissenschaften: Es war einmal ein sagenhaft starkes, reiches und weises Imperium, dessen Goldstandard die Weltwirtschaft beherrschte. Doch nach tausend Jahren war plötzlich damit Schluss, als am Horizont wilde Ritterhorden auftauchten…
Zweifellos, so der Moskauer Mediävist, sei Byzanz ein paar Jahrhunderte lang eine Insel der Zivilisation in einem Meer der Barbarei gewesen – doch dann habe der Westen einen kulturellen Aufschwung erfahren; Konstantinopel hingegen habe so getan, als herrschten noch immer spätrömische Verhältnisse. Ein hyperzentralisierter Staat habe das eigene Handwerk abgewürgt und damit italienischen Produkten Tür und Tor geöffnet. Als gierige Kreuzritter über Konstantinopel herfielen, sei Westeuropa dem Byzantinischen Reich wirtschaftlich längst überlegen gewesen. Das Hauptproblem des Imperiums sei nicht die Stärke seiner „Oligarchen“ gewesen, sondern deren Schwäche.
Tichons Opus, resümierte Iwanow, sei reine Fantasy – mit düsteren Westeuropäern und lichten Byzantinern, die sich jenseits von Zeit und Raum eine epische Schlacht lieferten. Natürlich könne Russland von Byzanz lernen – aber nicht, wenn es, statt ein Fenster in die Vergangenheit zu öffnen, vor einem Spiegel posiere.
Derartige Kritik, moniert Natalija Narotschnizkaja, Präsidentin der national-konservativen Stiftung Historische Perspektive, verkenne die Intention Tichons vollkommen: Ihm gehe es darum, dem modernen, geschichtsvergessenen Menschen die universelle Bedeutung des byzantinischen Erbes ins Bewusstsein zu rufen. Seine Kritiker verlören sich in Details, um ja keine breite historisch-philosophische Debatte über den Platz Russlands in der Welt führen zu müssen. Ohne eine derartige Debatte jedoch könne kein Verständnis wachsen für jenes historische Projekt, das, indem es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenführe, Russland mit der Welt verbinde.
Russland, so Narotschnizkaja, müsse begreifen, dass „Byzanz unsere Urmutter“ sei. Das byzantinisch-orthodox geprägte Land habe sich schon immer in einer Art ökumenischem Wettstreit mit Westeuropa befunden: Alles von dort Übernommene habe es stets bis zur Unkenntlichkeit verändert, was wiederum das Misstrauen des Westens befeuert habe. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müsse man den Westen nicht hassen, sondern sich lediglich befleißigen, Europa als Ganzheit zweier Erfahrungen zu begreifen und Russland als einen Wert, ohne den die Welt nicht vollständig sei. Zerstört werden müssten jene Klischees, welche die einen über jegliche Kritik stellten und andere zu Ausgestoßenen machten. Genau dies leiste Tichons Film und mache ihn deshalb so wertvoll.
Mit geokultureller Ausgrenzung hatte sich Narotschnizkaja bereits Jahre zuvor in einer tiefgründigen Studie über „Russland und die Russen in der Weltgeschichte“ beschäftigt. Den darin von ihr herausgearbeiteten Begriff des „postbyzantinischen Raums“ legte 2011 Ruben Sargarjan, außenpolitischer Berater der Regierung von Bergkarabach, seiner Idee einer „Ostmediterranen Neobyzantinischen Zivilisation“ (WSNWZ) zugrunde.
In Zeiten alles Nationale und Traditionelle nivellierender Globalisierung, unterstreicht Sargarjan, entspräche die Begründung einer solchen Zivilisation den strategischen Interessen der in diesem Großraum existierenden Länder – von Griechenland und Zypern über Mazedonien, Bulgarien und Serbien bis zur Ukraine, Russland und Georgien: Ihre Integration im Rahmen einer WSNWZ könne nicht nur dazu beitragen, gewissen nationalistisch-isolationistischen Tendenzen entgegenzuwirken, sondern auch helfen, zunehmende Spannungen zwischen Christen und Muslimen einzudämmen. Schließlich und endlich ergebe sich die Notwendigkeit einer WSNWZ aus dem transregionalen Expansionismus der Türkei (Panturkismus): Ihre Schaffung könne Ankara veranlassen, sich neu zu positionieren, eine „verantwortungsbewusste zivilisatorische Politik“ einzuleiten, was perspektivisch der Integration des Landes in eine WSNWZ förderlich wäre.
Derartigen Gedankenspielen widerspricht Stanislaw Chatunzew aufs Heftigste: Unter der Überschrift „Byzantinismus oder Eurasismus?“ konstatierte der bekannte Woronescher Historiker 2012 in einem längerem Beitrag für die Zeitschrift Entwicklung & Wirtschaft, der Byzantinismus, ebenso wie das in blutigen Stürmen untergegangene Russische Reich, gehöre endgültig der Vergangenheit an: „Weder die Straße von Konstantinopel noch die Balkan-Staaten können und sollten die prioritäre Sphäre unserer internationalen Aktivitäten sein. Dies hat bereits der 1. Weltkrieg deutlich gemacht, der dem historischen Russland den Todesstoß versetzte.“ Russland und Byzanz unterschieden sich fundamental: Ersteres sei (wie China) eine „Staatszivilisation“, Letzteres, ähnlich der Rzeczpospolita (1569–1795), ein klassisches „limitrophes (das heißt aus verschiedenen geopolitisch instabilen Räumen gefügtes) Imperium“. Entsprechend könne Russland auch nicht als Nachfolger des Byzantinischen Reichs gelten. Als solcher kämen nur das Osmanische Reich, respektive die Türkei in Frage. Gleichwohl dürfe die Bedeutung des Byzantinischen Erbes für Russland nicht unterschätzt werden: Bis heute stehe Moskaus Außenpolitik unter dem Bann eines nicht ganz adäquaten vorrevolutionären Byzantinismus, an dessen Stelle endlich eine nüchterne, pragmatische zivilisatorische Idee treten müsse, wie sie insbesondere im modernen Eurasismus zu finden sei.
Chatunzews Befürchtung, eine zu starke Fokussierung auf den „post-byzantinischen Raum“ verenge Moskaus außenpolitischen Horizont, kann der Autor dieser Zeilen nur bedingt nachvollziehen. Zum einen, weil eine solche Fokussierung derzeit nicht gegeben ist, zum anderen, weil im Sinne einer auch und vor allem für Europa wünschenswerten multivektoralen russischen Außenpolitik byzantinistische und eurasistische Herangehensweisen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern sinnvoll miteinander verschränkt werden sollten.
Eine derartige Verschränkung könnte helfen, die aktuelle Fixierung Russlands und der Balkan-Länder auf China und die EU zu verringern, was der hiesigen außen- und sicherheitspolitische Debatte nur gut tun kann. Denn letztlich handelt es sich beim Byzantinismus und Eurasismus um alternative Narrative, von denen wir alle angesichts der inzwischen ein Vierteljahrhundert andauernden globalen Krise in den internationalen Beziehungen gar nicht genug generieren können!
1971 formulierte Dimitri Obolensky (1918–2001) die Idee eines Byzantinischen Commonwealth. Um das Jahr 1000, so der Oxforder Mediävist und Literaturwissenschaftler, hätte sich eine Staaten- und Völkergemeinschaft herausgebildet, die sich von der Finnischen Bucht bis zum südlichen Peloponnes, vom Adriatischen Meer bis zum Kaukasus erstreckte. Damals habe die osteuropäische Gemeinschaft eine bis dato nicht gekannte kulturelle und politische Einheit erreicht …
Obolenskys Narrativ dürfte sich aus verschiedenen Quellen gespeist haben:
- dem Zusammenbruch des Russischen Reichs, den seine aristokratische Familie im französischen Exil überlebte;
- seinem Studium in Großbritannien und aus
- der Begegnung mit dem legendären tschechischen Byzantinisten František Dvorník …
Obolenskys Byzantinisches Commonwealth war eine beeindruckende Projektion britischer politischer Theorie auf eine im Staub der Geschichte versunkenen Welt.
Anfang der 1990er Jahre promoviert Ruben Sargarjan in Moskau über soziale Bewegungen in Großbritannien unter Margaret Thatcher. Zwanzig Jahre später projiziert er Obolenskys Narrativ auf eine wichtige Trümmerregion des ehemaligen Ostblocks.
Ein Narr, wem da kein Licht aufgeht …
Schlagwörter: Peter Linke, Postbyzantinismus, Russland