21. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Febuar 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zwei Defa-Stars wieder groß im Kino, Fontane im Theater und aufmüpfige Hühner in der Oper …

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Dr. med. Annebärbel Buschhaus: Mit Hund, neuerdings ohne Mann einsam, aber mit dominanter Frau Mutter, auch Ärztin. Und eben diese damenhaft ausladende, furios austeilende Herrin ist das Urproblem ihrer so scharfzüngigen wie verbitterten Tochter, Ende fünfzig, eine ausgewachsene Frustbeule, hinterrücks als Doktor Fürchterlich beschimpft.
Diagnose: Fehlende Mutterliebe von Kind an; den Freudschen Hintergrund dieses psychotischen Mutter-Tochter-Dramas lässt der Film „Die Anfängerin“ allerdings bloß ahnen. Vielmehr geht es Regisseurin Alexandra Sell um das nicht eben einfache Sich-Selbst-Herausziehen dieser mit eisiger Schnippigkeit und strammer Haltung gepanzerten Annebärbel aus ihrem tiefen schwarzen Loch. Dabei spielt das Eis(kunst)laufen eine wesentliche Rolle.
Nämlich wollte Bärbelchen – gut ein Halbjahrhundert istʼs her – auf Schlittschuhen in den Ruhm schlittern. Daraus wurde nix, und es bleibt offen, wen das mehr enttäuschte: Übermutter Irene oder ihr Opfer. Doch jetzt will es Annebärbel endlich wissen und aller Welt zeigen; also vornehmlich der Mama. Es hagelt schwere Rückschläge, doch keimen beim Training im Seniorenkollektiv nach anfänglichem Zickenkrieg auch schüchterne Freundschaften. Und nicht zuletzt spielt die Erinnerung an Berlins dreifache Eiskunstlauf-Europameisterin und Berlins einzige Weltmeisterin Christine Errath (1974, SC Dynamo DDR-Berlin) eine gewisse Rolle, die schließlich semiprivat als Ex-Eiskönigin und Schauspielerin Christine Stüber-Errath (61) einen berückenden Auftritt hat in der Übungshalle des Vereins der leicht betagten, doch enorm taffen Laien im Eiskunstlauf. Was für ein sympathisches Quantum Ostalgie sorgt. Ansonsten prägt den Film der Clinch der beiden Ärztinnen. Dieses Mutter-Tochter-Elend wird leichthin mit Charme, Lakonie, Kühle und feiner Komik inszeniert. Eine einfach-komplizierte Geschichte, die als Kleines Fernsehspiel konzipiert war, aber auch auf großer Leinewand fesselt.
Das liegt zuerst an den beiden Hauptdarstellerinnen Ulrike Krumbiegel (Tochter) und Annekathrin Bürger (Mutter). Allein schon dieses Casting ist die Sensation; freilich sind auch all die vielen Nebenrollen brillant besetzt. Doch das Duell Krumbiegel-Bürger trägt alles. Schon ihre Gesichter ganz oft großformatig (Kamera: Kolja Rschke) sprechen für sich; allein durch Minenspiel werden komplexe Regungen beim Zusammenprall der beiden packend lesbar. Schier atemberaubend, wie in Sekundenkrämpfen beider Not mit dem Alleinsein aufblitzt. Wie sie – man ahnt es bloß – Enttäuschungen, Verletzungen lax überspielen, wie sie aufgetakelte Souveränität demonstrieren, seelische Defizite überschminken oder Erinnerungen an weit zurückliegende Glücksmomente kurz aufschimmern lassen. Schauspielkunst vom Feinsten. Zwei schöne Frauen mit faszinierendem Antlitz. Zwei tolle Stars, die eine knapp sechzig, die andere gerade achtzig, zeigen, was sie können. Was für ein Erlebnis.
Wow!

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Ohne ein gewisses Quantum Mumpitz laufe das Leben nicht. So in etwa geht ein Fontane-Zitat. Das Entscheidende dabei: Die Dosierung!
Nun kam – aus Anlass des bevorstehenden 200. Geburtstags von Theodor Fontane am 30. Dezember 2019 – der literarisch-musikalische Kabarettist Rainald Grebe äußerst rechtzeitig dem ehrenvollen Auftrag nach, an der Schaubühne Berlin unter dem Motto „fontane200“ ein unterhaltsames Abendprogramm zu ertüfteln über den prominenten Märker (und Berliner).
Also las unser Tüftler, wie er sagt, erst mal zwanzig Romane, tausend Seiten Ehebriefe, fünftausend Seiten Kriegsberichte. Denn F. war als Journalist zugleich auch Kriegsreporter und Auslandskorrespondent; ansonsten freilich war er Dichter und Theaterkritiker. Das fleißige Studium der bestens zugänglichen, reichen Quellen habe ihn, Grebe, aber auch nicht schlauer gemacht. Na so was. Er wisse nicht, was er mit dem Jubiläum anfangen soll. Unglaublich.
Doch da muss ihn in letzter Sekunde ein Geistesblitz getroffen haben: Die Sache mit dem Mumpitz! Nur, mit dem Quantum kam er nicht klar. Also eiert, juxt und blödelt sich Grebes Fontanerei ausladend dahin durch zwei harmlos neckische Stunden. Als Mumpitz total. Theo hätte der angestrengt breit gewalzten Bespaßung den Vogel gezeigt und sich in der Pause verpfiffen. Es gab aber keine Pause. Also Durchhalten: Beim Gesülze eines fiktiven Antenne-Brandenburg-Moderators, bei einer Slapstick-Hatz durch die Plots einiger Romane, bei der Ruderbootfahrt Grebes in Taucherausrüstung übern Stechlin, beim Sandkasten-Nachspiel des Deutsch-Dänischen Kriegs, bei der Demonstration einer Virtual-Reality-Brille, die Fontane-Literatur nun „ganz neu“ erleben lässt. Alles Mumpitz. Bis aufs Zitat eines anrührenden Briefdialogs der Eheleute F. und ein paar expressionstische Filmszenen aus „Effi Briest“.
Das einzig Erbauliche an diesen „Einblicken in die Vorbereitungen des Jubiläums des 200. Geburtstags Theodor Fontanes im Jahr 2019“ (der Untertitel so gespreizt wie die ganze Veranstaltung), das sind die paar Liedchen mit den musikalischen Schauspielern zwischendurch, ohne Beteiligung des Regisseurs, sowie die langen spätherbstlichen Kamerafahrten durchs Idyll leerer märkischer Alleen.
Schade. Die Intendanz hätte den Auftrag an Patrick Wengenroth geben sollen, den frechen Schaubühnen-Meister vieler geistreicher Personality-Shows über historische Prominenzen.
Ach, wäre ich doch nur zu Hause geblieben, um auf dem Sofa in einem Fontane-Roman zu schmökern („einer besser als der andere“, so Thomas Mann). – Apropos Thomas Mann: Anstatt das feine kleine Ensemble herum kaspern zu lassen, hätte es sich hinsetzen und mit verteilten Rollen aus Manns Essay „Der alte Fontane“ lesen können. In den 20 Druckseiten von anno 1910 steckt hellsichtig der ganze Theodor, nicht nur der alte. Und obendrein dessen Epoche und Wirkung bis heute. Äußerst unterhaltsam – gewürzt mit Mumpitz, dem gewissen Quantum.

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Noch bevor es los geht, tobt schon der Saal im längst ruhmreichen Berliner Atze-Musiktheater für Kinder. Denn auf der Leinewand im Bühnenhimmel flimmern herzige Szenen „freundschaftlicher“ Beziehungen zwischen Mensch und Bär, Hund, Gans, Löwe. Passt zum Thema, das flapsig gesagt lautet: Tiere sind auch Menschen. Seriös gesagt heißt es im witzig gackerndem Singspiel „Hühneroper“ von Atze-Chef Thomas Sutter (nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Hanna Johansen): „Auch Tiere haben das Recht auf ein schönes Leben.“
Die Szene ist eine Eier-Lege-Batterie. Genau 3.333 Hennen hocken halbkrank in Käfighaltung (Regie: Göksen Güntel). Dort müssen sie hart arbeiten: Jeden Tag ein Ei und manchmal sogar zwei. Acht der fleißigen Hennen erzählen stellverstretend für ihre 3.325 Kolleginnen teils im Chor singend oder als Solistinnen von der tagtäglichen Fron bei schlechter Luft und synthetischer Kost. Die lieben Kinder packt das schiere Entsetzen.
Doch da gibt es ein aufmüpfiges Hühnchen. Es träumt – hahaha – vom Fliegen und goldene Eier Legen. Und schafft es mit überraschender Kraftanstrengung, ein Loch zu hacken in die Stallwand. Toll! Das Acht-Hennen-Kollektiv treibt ins Freie. Blauer Himmel, Sonnenschein, Gras zum Scharren und Picken, köstliche Regenwürmer. Der Saal jubelt mit dem befreiten Geflügel. Doch dann sinkt die Sonne, Angst macht sich breit: vor dem Dunkel, der Kälte, dem Fuchs. Und alle kehren artig zurück hinter die Gitter unter die Fuchtel des ausbeuterischen Stall-Direktors. Doch wer einmal frei an der frischen Luft war, der vergisst das nicht. Revolutionäre Stimmung macht sich singend breit: „Hühner zur Sonne zur Freiheit  …“ Und mit einem märchentauglich moderaten Kraftakt gelingt es der Geflügelschaft mit dem anarchischen Hühnchen als mutigem Anführer (die Kraft der Kleinen!), dem Stall-Chef moderne Freitierhaltung abzupressen. Der verkauft nun die Eier etwas teurer als „Bio“, und so gehtʼs auch dem Hennenvolk endlich gut. Friede, Freude, Eierkuchen – ein Finale wie sichʼs ziemt für ein zünftiges Märchen.