21. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Febuar 2018

Ein Funktionärsleben – oder: Memoiren eines Hardliners

von Alfons Markuske

Ermattende 545 Textseiten zu bewältigen hat, wer auch noch die letzte Fußnote von Hartmut Königs ungewöhnlich begegnungs- und reiseintensivem Funktionärsleben in FDJ (bis zum Zentralratssekretär erst für Internationale Beziehungen, dann für Kultur) und SED (stellvertretender Kulturminister) bis 1989 zur Kenntnis nehmen mag. Durchaus viel Anekdotisches darunter, keineswegs unkurzweilig, denn er traf sie ja alle – die einheimischen Singer/Songwriter und Rock- und Popgrößen sowie eine beneidenswerte Phalanx internationaler dazu, von Dylan über Cocker, Springsteen und Pete Seeger bis zu Udo Lindenberg. Trotzdem – alles in allem wäre weniger mehr gewesen. Zumal König überwiegend Oberfläche zu bieten hat. Er war ein Macher mit klarer Kante („Sag‘ mir, wo du stehst!“), hat, heutiger Selbstbeurteilung zufolge, „die Klüfte zwischen Ideal und Wirklichkeit mit Unvollkommenheit begründet, Nörglern und Besserwissern stolzere Geduld gewünscht, Kritik, die […] lähmend erschien, unterdrückt und Förderung neuer Dinge vom schnellen politischen Nutzen abhängig gemacht“. Dazu passt, dass er 1976, „als die Biermann-Petenten aus dem Schriftstellerverband geworfen wurden, […] ohne tieferes Bedenken dafür gestimmt“ hat und dass er als neugewählter Kultursekretär des FDJ-Zentralrates im Januar 1979 auf einer Aktivtagung von Singeclubs „die in der Singebewegung mit Bedacht gemiedenen Fürnberg-Zeilen Die Partei, die Partei, die hat immer recht … als kraftvollen Impuls für die Gegenwart“ würdigte.
Analyse andererseits ist Königs Sache, folgt man seiner Darstellung, offenbar nie gewesen, und wo er sich jetzt darin versucht, deckt er eher eigene Defizite auf, denn dass es ihm zum Kern der Dinge vorzudringen gelänge. Etwa

  • wenn er Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 „innen-, außen- und wirtschaftspolitische Komplexität der […] Abrechnung“ konzediert. Die Rede war letztlich vor allem ein ziemlich eindimensionaler und durchschaubarer Versuch, die Verantwortung für die Verbrechen der vorangegangenen Jahrzehnte praktisch allein auf Stalin und Berija abzuladen und sämtliche anderen eifrigen Exekutoren, von denen nie auch nur ein einziger zur Verantwortung gezogen oder auch bloß offiziell benannt wurde, zu exkulpieren. Chruschtschow selbst eingeschlossen, der als KP-Chef der Ukraine zu den aktivsten Tätern der Stalin-Ära gehört hatte. Er und seine Terror- und Mordgenossen wie Bulganin, Kaganowitsch, Malenkow, Mikojan, Molotow und Woroschilow starben hochbetagt und höchst friedlich in ihren Betten.
  • wenn er einen tieferen Grund für das Scheitern des real-existierender Sozialismus genannten Experimentes in der DDR und anderswo in der Unfähigkeit der damaligen politischen Führungen auszumachen vermeint, den konterrevolutionären Gehalt der Entspannungspolitik zu erkennen und ihm entgegenzutreten: „Nüchtern betrachtet: Was sich als ‚Wandlung durch Annäherung‘ in die Weltgeschichte schob, war ein kluger, offensiver Schachzug der Gegenseite. Heute meine ich, die Führungen der sozialistischen Länder versagten bei der Enthüllung und Zurückweisung dieses strategischen Manövers.“ Und: „[…] bewölkt sich der Himmel etwa nicht mit Verrat? Der Helsinkier Korb III lässt grüßen.“ Königs früherer Vorgesetzter, FDJ-Chef Eberhardt Aurich, sieht da deutlich klarer, wenn er dem Autor auseinandersetzt: „Der eigentliche Grund unseres Untergangs ist doch ein systemischer. Ich spitze es etwas zu: Er liegt im Versuch der gesellschaftlichen ‚Versklavung der Menschen‘ für eine unerfüllbare Fiktion vom Kommunismus. Dieser Sozialismus als System ist die Krux. Die führende Rolle der Partei ist das Diktatorische. Wir als Partei hatten eben nicht die Voraussicht und die Wahrheit über die gesellschaftliche Entwicklung gepachtet. Wir haben auf niemanden mehr gehört und selber nicht mehr nachgedacht, ob mit diesem System der angebliche Menschheitstraum verwirklicht werden kann. Eine wirkliche Demokratie haben wir trotz vollmundiger Versprechungen nicht hinbekommen.“
  • wenn er bekennt: „Während ich öffentlich den Mund hielt, habe ich die Dimension des Ministeriums für Staatssicherheit nie verstanden.“

Die Ereignisse vom Herbst 1989 in der DDR reflektiert König in schönstem Funktionärssprech und verbunden mit der Illusion, die damals auch der Rezensent durchaus mit Inbrunst teilte, dass, was sich da ereignete, ein hoffnungsvoller Neubeginn war, kein dissonanter Abgesang: „[…] die von DDR-Künstlern initiierte Demonstration und Kundgebung am 4. November auf dem Alexanderplatz oder andere Willensbekundungen dieser Art und Offenheit“ sind „ein wichtiger Beitrag zu einer neuen politischen Kultur. Die Erneuerung der DDR, der revolutionäre Umbau des Sozialismus in unserem Land ist das Ergebnis einer einzigartigen demokratischen Massenbewegung und der Wahrnehmung des souveränen Selbstbestimmungsrechts des Volkes der DDR, das unantastbar ist.“ Spätestens mit Schabowskis vergeigter Grenzöffnung vom 9. November war auch diese Messe gesungen. Auf „philosophische Feinkost in Fülle“ legte die Masse der DDR-Bevölkerung angesichts „blanke[r] Fliesen in den Fischgeschäften“ (ebenda) da schon längst keinen Wert mehr.
Ebenso rigoroser wie flächendeckender Entsorgung der DDR-Macht- und Funktionseliten nach der Eingliederung des kleineren deutschen Teilstaates in den Geltungsbereich des Grundgesetzes hatte es König nach 1990 zu danken, dass er Versuchungen, denen manche seiner internationalen Kollegen nur allzu willfährig anheimfielen, gar nicht erst ausgesetzt war. So erinnert er unter anderem an „zwei […] gut bekannte Frontmänner der Jugendbewegung Volkspolens“, die „in höchste Nachwendeämter“ gelangten: „Der einstige Jugendminister, Aleksander Kwaśńiewski, wurde Präsident der Republik, und der Vorsitzende des Landjugendverbandes, Leszek Miller, war zeitweilig Ministerpräsident. Ich staunte. In Deutschland durfte man höchstens Kultursekretärin einer FDJ-Gruppe gewesen sein, um in höchste Staatsämter zu gelangen. Unsere polnischen Altgenossen aber zogen die Schultern ein, als später enthüllt wurde, dass während ihrer Amtszeit die CIA ihre Gefangenen in illegale Foltergefängnisse auf polnischem Boden verbringen durfte. Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Polen […] des Verstoßes gegen das Folterverbot. Unsereins würgt an seinen Fehlern. Die alten Kampfgefährten bereuen nicht einmal die Verbrechen im Umfeld ihrer zynischen Verwandlungen.“ Und Gennadi Janajew, ein – Königs Schilderung zufolge – reichlich unappetitlicher früherer Komsomol-Apparatschik, avancierte 1991 gar zu einem der Anführer des dilettantischen Anti-Gorbatschow-Putsches: „Aber Neid will nicht aufkommen, bedenkt man den unvermeidbaren Verlust von Idealen im Getümmel jener bunten Front, die sich zur Rettung der Besitz-und Machtverhältnisse an den Futtertrögen der Politik versammelt.“
Ein weiteres grundlegendes Defizit des Königschen Wälzers benennt nochmals Eberhard Aurich: „Vom Alltag des FDJ-Funktionärs und seinen Konflikten mit der Partei- und FDJ-Linie erfährt der Leser leider nichts aus deinem Buch.“ Das dürfte vorsätzlichem Verschweigen Königs mitnichten anzulasten sein, schon eher dessen alerter Stromlinienförmigkeit, die ihm derartige Konflikte weitgehend ersparte.
Aurich, dessen Auseinandersetzung mit der eigenen Vita, mit dem eigenen Handeln und Scheitern weit uneitler und ehrlicher als bei König erscheint, soll hier auch das letzte Wort haben: „Du und ich waren von Stalinisten geschult worden und wurden so selbst welche. Der Kalte Krieg verhinderte zusätzlich, dass wir uns getrauten, weiter zu denken. Denn jedes offene Denken gefährdete unser System.“

Hartmut König: Warten wir die Zukunft ab, Verlag neues leben, Berlin 2017, 558 Seiten, 24,99 Euro.