21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Carl Lohses Welt der Farbe

von Klaus Hammer

Die Farben explodieren. Carl Lohses Stil entwickelte sich ebenso explosionsartig, so dass für die Kunstwissenschaft eigentlich diese frühe Zeit die Quintessenz seines Werkes darstellt: dynamische Kraft, die fast gewalttätig wirkt. Farben glühenden Lichts. Eine Intensität des Gefühls, die aus ihm heraus brach und an die er in den späteren Schaffensphasen nicht mehr anknüpfen konnte. Über die Auseinandersetzung mit der modernen französischen Malerei gelangte er zu einer kraftvollen Farbgebung, die seinem „glühenden“ Empfinden entsprach. Er vollzog wichtige Entwicklungen zur Darstellung des innerlich Gefühlten in neuen Ausdrucksformen.
1919 bis 1921 lebte Carl Lohse als Maler in der sächsischen Kleinstadt Bischofswerda, mit Kontakt zum Kunstzentrum Dresden, wo sich die Nachfolge der Brücke-Malerei mit frischen Provokationen von Otto Dix und Oskar Kokoschka mischten. Er entwickelte daraus in ekstatisch-visionären bis karikierenden Porträts und Landschaften ein leuchtend-buntes „Empfindungsleben“, so der Titel eines Bildnisses aus dem Jahr 1920. Hier ist das Antlitz derart strukturiert, dass eine Gleichzeitigkeit von Innen und Außen entsteht. Eruptionsartig entstanden Bild für Bild, Zeichnungen, Aquarelle und Plastiken in gut zwei Jahren. Doch dann kehrte Lohse wieder in seine Heimatstadt Hamburg zurück. Erst nach 1929 – er hatte inzwischen die Bischofswerdaerin Johanna Scheuermann geheiratet – begann in Bischofswerda die zweite Phase seiner Kunst, die bis 1939 reichte. Bis um 1950 griff er auf vieles zurück, was er zwischen 1919 und 1921 erdacht und gestaltet hatte. Zwar ist die Farbigkeit – allerdings in gebändigtere, naturnahere Formen eingebunden – geblieben, doch die Tendenz der Versachlichung ließ jetzt mehr Ausgeglichenheit und Ruhe erkennen. Er wandte sich nunmehr auch dem Holzschnitt, dem Patell zu und erweiterte sein Schaffen, das in der Frühzeit auf das Porträt beschränkt war, nunmehr auch durch Landschaftsdarstellungen. Im letzten Schaffensabschnitt, der um 1950 einsetzte und mit seinem Tod 1965 endete, führte er sein Porträt weiter und Studienaufenthalte an der Ostsee ließen ihn die Stimmungen des Meeres erleben.
Seine außerordentliche Bedeutung wurde erst lange nach Lohses Tod so richtig gewürdigt. Ausstellungen fanden vielerorts in längeren und kürzeren Abständen statt. 1993 wurde in Bischofswerda eine Carl-Lohse-Galerie gegenüber dem ehemaligen Wohnhaus und Atelier des Malers eingerichtet, die 2015 eine Neugestaltung erfahren hat. Gegenwärtig findet im Dresdner Albertinum eine Carl-Lohse-Ausstellung statt, die vorher im Ernst-Barlach-Haus Hamburg gezeigt wurde.
In Dresden ist sie wesentlich erweitert worden und zeigt Werkgruppen aus dem Albertinum und dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen Dresden sowie der Carl-Lohse-Galerie Bischofswerda, dem Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst Cottbus/Frankfurt (Oder), der Kunsthalle Rostock, dem Museum Bautzen sowie den Museen des Landkreises Oberspreewald-Lausitz, Kunstsammlung Lausitz in Senftenberg. So sind 77 Gemälde, Zeichnungen und Plastiken des Künstlers zusammen gekommen.
Farbenstimmung hieß für Lohse, dass alles im Bild seine Lokalfarbe wechselt nach dem gleichen Prinzip, dass alle gebrochenen Töne dadurch eine einheitliche Verwandtschaft erhalten. Die Farben sind übersteigert, und doch treffen sie das Wesentliche einer Landschaftssituation. Gelb und zinnober knallt uns die Sonnenglut entgegen („Schnitter“, 1920). Blau und Orange, Rot und Grün stoßen als Komplementärkontrast zusammen („Unreifes Korn“, 1920). Rot glutet das Meer am Abend („Rote See“. 1958). Violett kämpft mit Grün, und wenn die einzelnen Bilder doch in sich harmonisch anmuten, so ist das oft eine Harmonie der Kontraste. Flammende Bäume versetzen den Betrachter in tropische Temperaturen („Parkbänke“, 1934), während der „Wintertag mit Sonne und Krähe“ (1931) schneidende Kälte suggeriert. Und in „Abendwolke“ (1950er Jahre) sind Haus, Wolken und Wasser, Menschen, violett, rot, grün, weiß, im Umbruch vom Ding zum Zeichen begriffen. Die Umrisse des Gegenständlichen schreiben sich als lineare Strukturen der Bildfläche ein.
In den frühen Arbeiten zersplittern wie von selbst die Formen in kubistische Elemente, entsteht die von den Futuristen gepriesene aggressive Prägung. Haben den Maler Vorahnungen kommender Erschütterungen ergriffen? Es heißt nicht mehr geprägte Form, aus dem Sichtbaren gefiltert, sondern Aufbrechen seelischer Tiefendimensionen, Herstellung neuer Bezüge zwischen Mensch und Sein, Kunst als Welterneuerung. „Kleine Stadt“ (1920): Lohse hat versucht, das tektonische Gerüst einer Stadt durch Brechung und Verschiebung seiner ursprünglichen Festigkeit zu berauben, um es auf andere Weise wieder zusammenzusetzen. Von der Vorstellung der Simultaneität, der Gleichzeitigkeit ausgehend, werden verschiedene Gegenstände und Ereignisse auf einem einzigen Bild zusammengebracht, so wie das innere Auge eine Vielzahl verschiedener Erfahrungen gleichzeitig aufnehmen kann. Wie mit Röntgenstrahlen sieht man durch die Häuser hindurch, und wenn das Bild wie in einem Kaleidoskop von Farben durchgeschüttelt wird und den Gesetzen der Schwerkraft widerspricht, so war der „Provinzmaler“ Lohse mit seinen Bildern doch ganz nahe dem modernen Paris.
Auf allen Selbstporträts deutet die Intensität seines Blickes auf eine Selbstbefragung, die darauf gerichtet ist, hinter die sichtbare Oberfläche zu schauen. Der prüfende, durchdringende Blick fällt nicht nur auf den Betrachter, sondern mit ihm misst sich der Porträtierte selbst. Der Maler versucht, die Identität des Geistigen zu begreifen und zugleich die physische Erscheinung festzuhalten. Die Porträts bauen eine vibrierende Farbstruktur aus nebeneinander gelegten Pinselstrichen reiner Farbe auf. Die eigene Zerrissenheit hat Lohse auf die Bildnisse seiner Freunde projiziert. Seine Porträtköpfe in grotesker Typisierung sind zwielichtig. Das bohrende physiognomische Interesse drängt zur Maske, zur mimischen Verdeutlichung der innewohnenden Kräfte. Die suchende, bekenntnisartige Intensität seiner Porträts, vor allem seiner Selbstporträts ist von traumatischer Wirkung. Der Kopf ist eine Fläche gesteigerter Konzentration. Sei es, dass in ihm vielerlei Außeneinflüsse drängend zusammenkommen; sei es, dass das Kopfumfeld von dem intensiven blicklosen Blick durchdrungen und beherrscht wird. Hier versammeln sich alle sichtbaren und unsichtbaren Kraftlinien des Bildes. Ohne selbstquälerischen Eifer ist es Lohse gelungen, sich noch in Grenzsituationen ernst nehmend, für sich und die Betrachter exemplarische Bilddokumente menschlicher Existenz zu sichern. Die gemalte Person steht vor uns als fragende Erscheinung. Man wird von diesem Blick unwillkürlich in die Defensive gedrängt. Und das ist verwirrend.
Wie hat es Büchners Woyzeck seherisch formuliert: „Der Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinunter schaut.“

Carl Lohse. Expressionist. Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, tägl. 10–18 Uhr, Montag geschlossen, bis 15. April 2018. Katalog 25 Euro.