21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

„Mein armer Vater ist leider kein Bankier“

von Rosa Luxemburg

Gleich nach dem Abitur verließ Rosa Luxemburg ihre Heimatstadt Warschau, weil sie als Frau im Russischen Reich nicht studieren konnte. Sie verließ auf illegalem Weg das Zarenreich, was zugleich den schmerzhaften Abschied von ihrer Familie bedeutete. Zu einem Wiedersehen mit dem Vater kam es erst viele Jahre später, als Rosa Luxemburg im Sommer 1899 den Vater einige Wochen zur Kur begleitete – zunächst im Oberschlesischen, später in dem zu Österreich gehörenden Mähren, im heutigen Jeseník. Die Pläne, sich im Sommer 1900 in Ostpreußen wiederzusehen, wurden durch die fortschreitende Krankheit des Vaters zunichte gemacht. Der Vater starb am 27. September 1900 in Warschau im Alter von 72 Jahren. Die Briefe an Leo Jogiches, den damaligen Lebenspartner und engsten politischen Vertrauten Rosa Luxemburgs, wurden in Polnisch geschrieben und werden hier nach der Übersetzung in den sechsbändigen „Gesammelten Briefen“ des Karl-Dietz-Verlags Berlin wiedergegeben.

Brief an Leo Jogiches, Berlin, 3. Juni 1899

[…] Du bist schon wieder wütend! Und zwar deshalb, weil ich einige Tage auf den Brief vom Vater warte. Du vergisst in Deiner Güte, dass mein Vater mich 10 (zehn) Jahre nicht gesehen hat. Und sicher wird das, wie mir die Nachrichten über seinen Gesundheitszustand sagen, unser letztes Wiedersehen sein. Wir beide werden uns Gott sei Dank noch so an die dreißig Jahre miteinander freuen (und streiten), also könntest Du dieses Mal etwas mehr Rücksicht zeigen. Mein armer Vater ist leider kein Bankier, um nach Belieben Ferien zu machen, er ist völlig von seinen armseligen Groschengeschäften abhängig. – Am Mittwoch reise ich ab, wie ich Dir schon geschrieben habe, und mit dem Vater werde ich mich im Juli treffen. Er ist sehr krank, und ich werde ihn in eine Klinik bringen müssen. […]
(Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 343.)

Brief an Leo Jogiches, Gräfenberg bei Freiwaldau, 2. August 1899

[…] Der Vater ist nicht krank, nichts Besonderes, außer einer allgemeinen und völlig nervösen Erschöpfung. Er hat kein Tröpfchen Blut in sich und leidet unter Erbrechen, Übelkeit, „Schwäche“, Halsbrennen, Aufstoßen, Krämpfen in den Beinen, Husten, und das alles nervösen Ursprungs. Er sieht so schrecklich aus, dass ihm alle nachsehen. Zu Hause haben diese Idioten von Ärzten ihn zusammen mit Józio [Luxemburg] mit – elektrischem Strom und Bromkali behandelt, statt ihm zu essen zu geben, und quälten ihn mit Diäten, so dass er sich fürchtet, den geringsten Bissen zu sich zu nehmen. Das alles dauert nun schon fast zwei Jahre, das heißt seit Mutters Tod. In diesem Zustand muss er täglich seinen Geschäften nachtrotten, von früh bis Mitternacht, Du kannst Dir also vorstellen, wie er hier angekommen ist. Ich habe sofort das gesamte Behandlungssystem geändert und gab ihm alles zu essen, was ihm schmeckt, vor allem Eier (neun Stück täglich), Milch etc. Es ist bereits eine bedeutende Besserung eingetreten, aber es ist so: Papa wird aus alter Gewohnheit nachts alle zwei Stunden wach und hustet so, dass wir beide nicht schlafen können. Früh um 5, 5½ steht er bereits auf, also muss auch ich aufstehen, denn ich muss ihn kalt abreiben (auf ärztliche Weisung), ihm den Tee zubereiten. Nach dem Tee, wenn er etwas geruht hat, muss ich ihm Eier machen, dann Kaffee. Wenn er gegessen hat, so muss ich abwaschen und aufräumen, mich dann anziehen und mit ihm spazieren gehen, was für mich eine Qual ist, denn Vater schleicht dahin wie eine Schnecke (ohne Übertreibung), dass mir übel wird. Kaum sind wir ein Stückchen gegangen, ist Papa schon wieder hungrig, und ich muss entweder wieder nach Hause zurück und von neuem kochen oder mit ihm unterwegs irgendwo einkehren. Dann trotten wir zum Mittagessen, nach dem sich Papa erst so in einer Stunde erheben kann, um nach Hause zu gehen. Nach dem Mittagessen möchte ich schlafen, um etwas auszuruhen, aber Papa schläft nachmittags eine Viertelstunde, worauf er sofort Tee wünscht, also muss ich aufstehen. Nach dem Tee mache ich eine halbe Stunde später schon wieder Eier und Kaffee, worauf wir uns zum Spaziergang aufrappeln, es wiederholt sich das gleiche wie vormittags, man muss für das Essen um 5, um 7 und um 10 vor dem Schlafengehen kochen. Dann kommt die Nacht mit Husten, Aufstehen mitten in der Nacht und da capo al fine. Jetzt denk Dir noch folgenden Umstand dazu: Wir wohnen in einem kleinen Mansardenzimmerchen (!!), denn für mehr reichen die Mittel nicht, denn für die Fahrten hin und her (Salzbrunn, Carlsruhe, Breslau) ging die Hälfte von Papas und drei Viertel von meinem Geld drauf. Meine „Ecke“ ist nur durch einen Wandschirm abgetrennt. Man kann sich überhaupt nicht bewegen, ich habe nur einen einzigen Spirituskocher und zwei Töpfchen und muss darin kochen Kaffee, Tee, Eier, Milch, Milchklößchen, und zwar alle Augenblicke lang, ich muss ständig das Geschirr abwaschen, damit es für das nächste Mal sauber ist. Ständig muss ich nach Einkäufen rennen. Zum Lesen, selbst für einen Briefhabe ich somit für mich nicht ein Stündchen. Du wirst also verstehen, dass im Ergebnis meine Nerven etwas angespannt sind. Dabei habe ich nicht einmal Zeit zu essen, denn die ganze Zeit wird der Kocher für Papa gebraucht, und ist alles fertig, ist auch schon Zeit zum Spazierengehen. Jetzt ist noch zu berücksichtigen, das viele Hin- und Herfahren mit den vielen Gepäckstücken (Papas und meine), mit Umsteigen alle Stunde (die Wegstrecken sind hier so), die Sachen immer wieder auspacken und einpacken, unterwegs Papa aus dem Korb verpflegen und alles mit sich auf der Bahn mitschleppen, nach dem Quartier herumrennen etc. etc. Das erste Mal ist es mir jetzt gelungen, ein Stündchen für mich herauszureißen, denn zum Glück hat Papa einen Bekannten getroffen und kann ohne mich mit ihm spazieren gehen. Mehr Persönliches über mich habe ich, das weiß Gott, nicht zu schreiben. Du fragst nach der Anschrift zur Geldüberweisung und wie viel zu schicken ist. Schicke, wie viel Du erübrigen kannst, aber ohne Dich zu übernehmen, denn ich kann noch im schlimmsten Falle von Leipzig anfordern. Meine Anschrift an meinen eigenen Namen, gewöhnliche Sendung. […]
Goldenes, wenn Du in der Lage wärest, uns insgesamt etwa 50,- M zu schicken, so könnten wir noch eine Woche länger (das heißt bis zum 17.) hierbleiben.
(Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 354 ff.)

Brief an Leo Jogiches, Gräfenberg bei Freiwaldau, 8. August 1899

[…] Du wunderst Dich sicherlich, dass ich Dir auf Deine gewaltigen Briefe, fast schon Artikel, nicht schreibe. Du weißt bereits aus meinem letzten Brief, wie ich hier die Tage und Nächte verbringe. Es ist lächerlich, hier an ein Schreiben von Artikeln auch nur zu denken, aber selbst Deine Briefe lesen kann ich erst ein, zwei Tage nach Erhalt, und das nur stückweise, verstohlen, denn Vater passt es nie, wenn ich einen Brief lesen oder schreiben will. Wenn er denn abgefüttert ist, will er auf der Stelle an die frische Luft, und an der Luft sitzen wir täglich je zwei Stunden bei Musik auf der Promenade, wo ein solches Jahrmarkttreiben herrscht, dass man nicht zwei Worte lesen kann, dabei kommen dauernd Bekannte (aus Warschau) angekrochen und plappern die ganze Zeit. Und wenn niemand da ist, so muss ich mich mit dem Vater unterhalten und ständig versuchen, ihn zu erheitern und zu beschäftigen, denn sonst verfällt der Arme sofort in eine trübe Stimmung, beginnt über sein Elend nachzudenken, und dann ist die ganze Kur zum Teufel. Kurz, mein Teurer, ich schreibe Dir das deshalb, damit Du erst gar nicht Briefe, von Artikeln ganz zu schweigen, erwartest bis zur Abreise von Vater (am 15.); besonders jetzt, in den wenigen letzten Tagen, lässt er mich nicht einmal eine Minute für mich verwenden. Mach Dir also keine Sorgen um mich, sofort am 15. fahre ich nach Berlin, miete eine Wohnung und setze mich an die Arbeit. […]
Am 12. will Vater nach Breslau fahren, um dort Einkäufe für zu Hause zu machen (ein paar Kleinigkeiten), und von dort nach Hause. Er will, dass ich ihn unbedingt bis Kattowitz begleite. Dass wir kein Geld brauchen, habe ich Dir schon geschrieben. Tatsächlich habe ich hier meinen letzten Groschen ausgegeben, aber ich habe 20,- M für die Fahrt beiseitegelegt, und in Berlin nehme ich sofort aus Leipzig meine 40,- M. Ich wiederhole also noch einmal: Rechne nicht mit Briefen von hier und beunruhige Dich nicht. […]
(Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 356 f.)

Mit freundlicher Unterstützung von Holger Politt.