20. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2017

Warum scheiterte Michelle Bachelet?

von Stephan Wohanka

Am 19. November fand in Chile die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Michelle Bachelet, amtierende Präsidentin, kann nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten. Sie hätte auch keine Chance, erneut ins höchste Staatsamt gewählt zu werden, denn ihr Ansehen ist auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. Trotzdem war der Vorsprung für den Mitte-Rechts-Kandidaten Sebastián Piñera, auch Vorgänger Bachelets im Amt, deutlich geringer als erwartet. In den Umfragen vor der Wahl lag er bei 44 Prozent, viele hatten auf einen Sieg im ersten Wahlgang spekuliert. Mit 36,6 Prozent blieb er deutlich hinter den Erwartungen zurück und muss sich nun am 17. Dezember der Stichwahl gegen Alejandro Guillier stellen, der von Teilen der jetzigen Regierungskoalition unterstützt wird und es auf 22,7 Prozent brachte.
Zur Erinnerung: Tausende Chilenen flohen 1973 nach dem Militärputsch von General Augusto Pinochet wegen brutaler Menschenrechtsverletzungen ins Exil, viele auch in die DDR. Zu ihnen gehörte Bachelet, Tochter eines gegenüber der rechtmäßigen Regierung Allende loyalen Generals. An der Humboldt-Universität studierte sie Medizin, arbeitete als Kinderärztin und erhielt im Oktober 2006 die Ehrendoktorwürde der Charité.
Es begann nicht schlecht für die Sozialistin Bachelet: Gut zwei Drittel der Wähler gaben ihr in der Stichwahl Ende 2013 gegen die konservative Kandidatin Evelyn Matthei ihre Stimme. Gegen soziale Ungleichheit wollte sie kämpfen, das Land wirtschaftlich voranbringen und eine neue Verfassung erarbeiten. Bis Anfang 2015 reformierte sie immerhin das Wahlsystem aus Zeiten der Pinochet-Diktatur, liberalisierte Sozialgesetze und begann sogar mit der dringend erforderlichen Reformierung des Bildungssystems. Denn seit 2011 – Piñera war damals Präsident – sind in Chile immer wieder Schüler und Studenten auf die Straße gegangen, um für eine bessere Bildung sowie einen gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem zu demonstrieren, das seit der neoliberalen Umgestaltung während und nach der Pinochet-Diktatur weitgehend privatisiert wurde. Bachelet brachte die Reform nur schleppend voran, so dass die Bildungsproteste wieder aufflammten. Laut OECD kommt der Staat in Chile nur für 15 Prozent der Bildungskosten auf, 85 Prozent werden privat getragen. Namentlich die Mittelschicht ist von der sozialen Selektion im Bildungswesen betroffen. Mehr noch: Bachelets Reformen werden heute als Schlag gegen das öffentliche Schulsystem verstanden, denn es nähmen sehr viel weniger Schulabgänger aus diesem System an den Aufnahmeprüfungen der Universitäten teil. Gefördert wurden indirekt die vom Staat finanzierten Privatschulen, die wiederum viele neue Reglementierungen und noch mehr Bürokratie beklagen. Die Eliten profitieren also weiterhin vom neoliberal geprägten Bildungswesen, und die Universitäten bilden ungebrochen deren Kaderschmieden. Die Reformen haben den wirklich Betroffenen wenig bis nichts gebracht und letztlich der Popularität der Präsidentin massiv geschadet.
Neben der Bildung ist die Korruption der Machteliten das Thema in Chile. Gegen Bachelet selbst gibt es keine Korruptionsvorwürfe, wohl aber gegen ihre Familie. Da sie geschieden war, hatte sie ihren Sohn, Sebastián Dávalos, erst zu einer Art „First Husband“ und dann zum Leiter der Präsidialabteilung für Soziales und Kultur gemacht. Später wurde bekannt, dass er Einfluss auf die Vergabe eines Zehn-Millionen-Dollar-Kredites für ein Immobiliengeschäft von der privaten Banco de Chile an das Unternehmen Caval genommen hatte. Letzteres gehört zu 50 Prozent seiner Ehefrau Natalia Compagnon. Immerhin trat Dávalos innerhalb kurzer Zeit von seinem Posten zurück, um Druck von seiner Mutter zu nehmen. Das Problem betrifft aber nicht nur die Regierung, sondern alle Parteien; die „rechten“ profitieren natürlicherweise mehr als die „linken“. Und doch – der Hauptfinanzier von Bachelets Sozialisten war ausgerechnet Julio Ponce, ein früherer Schwiegersohn Pinochets. Ein Abgeordneter der Sozialistischen Partei bemerkte dazu: „Dass diese rechten Mumien auf diese Weise ihre eigenen Politiker finanzieren, ist schon schlimm genug, denn es ist illegal. Wenn jedoch ein Schwiegersohn Pinochets unsere Leute und die Kampagne Bachelets finanziert, dann ist das schon ein starkes Stück.“ Zwar ist nicht erwiesen, dass Ponce das Programm der Sozialisten beeinflusst habe, aber dass die Partei das überhaupt akzeptierte, ist in den Augen vieler Chilenen ungeheuerlich und hat das Ansehen der Präsidentin, die davon nichts gewusst haben will, zusätzlich beschädigt.
Neben den genannten Reformen hat Bachelet auch eine Steuerreform angestoßen. „Die Ungleichheit ist unsere große Wunde“ sagte sie nach ihrer Wahl. Passiert ist allerdings wenig. Oder besser: Das Wenige führte in der Summe dazu, dass durch die Reform Anreize für Investitionen quasi abgeschafft wurden. Dadurch haben die Unternehmen sehr viel weniger investiert, wodurch das Wirtschaftswachstum auf 1,5 Prozent sank, was für ein Land wie Chile äußerst niedrig und in allen Bereichen zu spüren ist. Hinzu kam allerdings noch der niedrige Kupferpreis. Das heißt, auch die Steuerreform wirkte sich negativ aus. Und dies alles auf dem Hintergrund einer eher konservativen Mittelschichten-Gesellschaft, die Arbeitssicherheit, nachhaltigen Lebensstandard und eine gute Erziehung für ihre Kinder präferiert und keine Neigung zu wirtschaftspolitischen Experimenten welcher Art auch immer hat – die sogar außerordentlich konsumfreudig ist und mit der Regierungszeit Piñeras von 2010 bis 2014 verbindet, dass die Arbeitsmöglichkeiten stiegen, die Armut sank und dass sich das Leben vieler verbesserte. Piñeras ökonomische Bilanz war jedenfalls deutlich positiver als die der aktuellen Regierung.
Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man wissen, dass die zweite Bachelet-Regierung ab 2014 eine völlig andere ist als die erste von 2006 bis 2010, die eine moderate sozialdemokratische Linie vertrat. Nicht mehr die „Concertación“, ein Mitte-Links-Bündnis, stellt die Regierung, sondern die „Nueva Mayoría“, eine Allianz eher linker Parteien, in der auch die Kommunistische Partei vertreten ist. Das ist eine ausgesprochen orthodoxe Partei, die Margot Honecker wie eine Heldin gefeiert und die DDR bis zuletzt verteidigt hat. Die Concertación dagegen ist aus dem Oppositionsbündnis „Concertación de Partidos por el No“ hervorgegangen, das beim Plebiszit von 1989 für freie Wahlen eintrat und gegen eine Verlängerung der Pinochet-Diktatur – deshalb das „No“. Seit dem Ende der Militärdiktatur 1990 kamen bis zur Präsidentschaft von Piñera alle chilenischen Präsidenten aus dem Lager der Concertación. Und gerade die jetzige Beteiligung der Kommunisten hat negative Auswirkungen auf das Regierungshandeln. Obwohl eine relativ kleine Partei, beeinflusst sie doch viele Entscheidungen. Die politischen Koordinaten der jetzigen Regierung waren so nicht wirklich definiert. Sie oszillierten um einen sozialdemokratischen Flügel und um Einflüsse der unabhängig von diesem agierenden Kräfte, die in Teilen der spanischen „Podemos“ ähnlich sind. Bachelet besaß offenbar nicht das Vermögen, aus diesen Strömungen eine halbwegs stimmige Politik zu formen. Spötter sagen deshalb auch, sie sei eine Art Angela Merkel Chiles, ein menschgewordener Kompromiss. Nicht unbedingt ein Kompliment. Auch wird den Sozialisten und ihren Verbündeten eine gewisse Portion „Feigheit“ vor dem „Feind“ im Land vorgeworfen. Auch desgleichen ist kein Ruhmesblatt. Alles in allem gegen Ende ihrer jetzigen, zweiten Amtsperiode bleiben die meisten von Bachelets politischen Vorhaben fragmentarisch, Stückwerk, unvollendet. Man hätte gerade dieser Frau einen besseren Abgang von der historischen Bühne gewünscht.