21. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2018

Mit Edmondo De Amicis und Mary Shelley auf Reisen

von Wolfgang Brauer

Der italienische Schriftsteller und Journalist Edmondo De Amicis, auf dessen exzellente Reportagen unter anderem über Konstantinopel und Marokko wir schon aufmerksam gemacht hatten, besuchte anlässlich der zehnten Weltausstellung im Jahre 1878 Paris. Im Jahr darauf erschienen seine „Ricordi di Parigi“. Diese „Erinnerungen an Paris“ legte Annette Kopetzki jetzt in einer Neuübersetzung bei CORSO vor. Frau Kopetzki leistete eine großartige Übersetzungsarbeit. De Amicis bevorzugte einen stark parataktischen Stil. Er gab sich gar nicht erst die Mühe, aus der Fülle des Erlebten auszuwählen. Die Flut der Eindrücke strömt über den Leser hinweg. Man droht fast darin zu ersaufen, erreicht aber dank der kongenialen Spracharbeit Kopetzkis leicht das rettende Inselchen eines reflektierenden Innehaltens – um wenige Zeilen später von De Amicis wieder in den Malstrom der Weltstadt gezerrt zu werden.
Und wie ein Malstrom muss Paris ihm bei seiner Erstbegegnung vorgekommen sein. Der Journalist mit dem „abgewetzten Literatenkoffer“, der ihm angesichts des erlebten Glanzes peinlich erscheint, stürzt sich sofort in das Gewühl „der Metropole der Metropolen“, gegen die ihm die heimatlichen Städte Mailand und Turin – von  Rom ganz zu schweigen – wie erbärmliche Provinznester vorkommen. Er nimmt uns mit auf eine Parforcetour durch das „glühende Herz von Paris“, über die Boulevards „in das große Theater der Ambitionen und der berüchtigten Ausschweifungen, wo das Gold, das Laster und die Torheit aus allen Ecken der Welt herbeiströmen“. „Riesig und unverschämt“ ob ihres auf exhibitionistische Weise präsentierten Reichtums erscheint ihm die Stadt. Allerdings macht ihn „die ganze Schönheit dieses auf der Welt einzigartigen Ortes“ nicht blind für die vielen „Figuren aus der großen Familie der Gescheiterten“, die Schattenseiten einer Stadt, in der „fortwährend alles der äußeren Erscheinung geopfert wird“, „auf der Gottes Fluch lag“ – De Amicis meint die Tage der Kommune 1871 und die ihnen folgenden Massaker der Konterrevolution –, und die er dennoch mit einem Stoßruf verließ: „Ach du schöne, schreckliche Sünderin, ich vergebe dir alles, und auch wenn meine Seele auf ewig verdammt sein soll, ich liebe dich!“
Zwischen der adrenalingesättigten Ankunft und dem das Herz zerreißenden Abschied lag allerdings das Erlebnis der Weltausstellung. Die erschien ihm anfänglich ob der Gekünsteltheit der Schauarchitekturen und dem großen Neben-, ja Durcheinander der Kulturen irgendwie als Kasperletheater. Es war nicht die Welt, es war für ihn der großartige Entwurf der Welt „einer Zeit allgemeiner Brüderlichkeit, wenn die Vaterländer verschwunden sein werden“. Und angesichts der Pracht wirft er immer wieder die Frage auf, was denn der Preis dafür sei: In der Eingangshalle des Ausstellungspalastes auf dem Marsfeld, findet er, würden wohl die Skelette der „Hälfte all jener Inder Platz (finden), die bei der letzten Hungersnot gestorben sind“. Dennoch sieht De Amicis in erster Linie das völkerverbindende dieser Schau, den „Schatz aus lieben Namen, neuen Sympathien und Hoffnungen“ und „applaudiert begeistert der Weltausstellung“. Wer die Fortschrittseuphorie unserer Ahnen im aufziehenden Fin de siecle verstehen will, lese Edmondo De Amicis Reportage.
Abgerundet wird der Band durch Berichte über seine Besuche bei Victor Hugo und Émile Zola. Während De Amicis sich Ersterem fast sprachlos nähert – Hugo quasi als Denkmal seiner selbst, das Ganze erinnert an die Berichte von Weimar-Reisenden über ihren Besuch beim alten Goethe –, erlaubt Zola ihm einen Blick in die Werkstatt des Romanciers, der gerade den „Totschläger“ veröffentlicht hatte und mitten in der Konzipierung der letzten Bände des „Rougon-Macquart“-Zyklus steckte. Für literaturhistorisch Interessierte ein Muss.
Die Bildbeigaben des Bandes sind ein Erlebnis für sich.

Edmondo De Amicis: Paris. Erinnerungen an eine Weltstadt, CORSO, Wiesbaden 2017, 176 Seiten, 25,00 Euro.

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Der achtzehnjährige Percy Florence Shelley und seine beiden Freunde verbrachten 1840 ihre Sommerferien am Comer See. Sie wollten dort für die im Winter bevorstehenden Abschlussprüfungen lernen. Mama durfte sie begleiten. Im Ergebnis dieser Tour entstand eines der wohl schönsten Reisebücher der späten Romantik. Handelte es sich doch bei der begleitenden Mutter um niemand anders als die Autorin von „Frankenstein or The Modern Prometheus“, einem Roman von beängstigender Prophetie, die Schriftstellerin Mary Shelley. Mary Shelley liebte Italien und hatte dennoch ein sehr schwieriges Verhältnis zu diesem Land. Zwei ihrer Kinder starben dort. Ein drittes verlor sie infolge einer Fehlgeburt. Ihr Mann, der romantische Dichter und Freund Lord Byrons, Percy Bysshe Shelley, ertrank mit dreißig Jahren 1822 im Golf von La Spezia.
Mary Shelley beschreibt in Form von Reisebriefen die Stationen der Reise wachen Sinnes: Auf der einen Seite bewundert sie die herrlichen Flusslandschaften von Rhein und Mosel, andererseits stechen ihr „die schmutzigen Bewohner und die verfallenen Hütten“ an der Mosel ins Auge. Vor allem in den Briefen aus Italien kommentiert die radikale Demokratin immer wieder die missliche Situation Italiens und der Italiener unter der habsburgischen Fremdherrschaft.
Hübsch auch die gastronomischen Studien: „Die deutschen Hotels werden alle mit großer Ordnung und Zuverlässigkeit geführt und sind sehr sauber, ruhig und gut. […] Der einzige Nachteil ist, dass die Mahlzeiten im Gemeinschaftsraum serviert werden, wo die Deutschen rauchen und frische Luft für ungesund halten.“ Zwei Jahre später, sie kurte im Sommer in Kissingen („Ich glaube nicht, dass es mich noch einmal in ein deutsches Bad zieht, es sei denn, ich bin ernstlich krank.“), kommt sie zu ganz anderen Befunden: „… die Deutschen sind, soweit ich es beurteilen kann, kein reinliches Volk. In Kissingen mussten wir uns richtig ins Zeug legen, um die Fußböden […] zu säubern. Die Bodenbretter meines Zimmers in Rabenau sind nie mit Wasser in Berührung gekommen und ich bat vergeblich um eine kleine Säuberung.“ – „Auf der Bastei gibt es einen Gasthof, dort aßen wir zu Mittag. Die deutsche Küche ist sehr schlecht. Außerdem mussten wir lange warten, bis wir lustlos bedient wurden.“ Was hat sich seitdem geändert?
Dafür lernte Mary Shelley die Vorzüge der Dampfschifffahrt kennen und erlebte den Einzug der Eisenbahn in das deutsche Verkehrswesen („nirgendwo auf der Welt kommt einem die Dampfgeschwindigkeit so gelegen, denn einen traurigeren Anblick als diese flache Wüste kann man sich nicht vorstellen“ – sie meint die Mark Brandenburg). Leider sprach sie kaum ein Wort Deutsch. Dadurch erscheinen die Deutschland-Passagen stellenweise ein wenig Baedecker-ähnlich, was aber ihren Wert nicht mindert. Ihre Schilderungen der italienischen und deutschen Landschaften gehören zu den besten überhaupt in der europäischen Reiseliteratur. Die Beschreibungen Berlins, dessen Zentrum sie „eine prächtige Versammlung von Bauwerken“ nennt und Dresdens, dessen Galerie für sie „eine Goldgrube aus bemalter Leinwand“ ist, sind spannend zu lesen und stürzten den Rezensenten in eine tiefe Nachdenklichkeit über den tatsächlichen Fortschritt heutigen stadtplanerischen Denkens. Seit Friedrich II. hat sich nicht viel geändert: „Andernorts ist es das Ziel, Land zu sparen und sich dem Himmel zu nähern. Hier dagegen strebten die Erbauer danach, soviel Raum wie möglich zu bedecken …“ Das erinnert vertrackt an die aktuellen Berliner Hochhauskämpfe und die Gier der hiesigen Stadtbaudirektoren, zumindest im „historischen Zentrum“ der Stadt – was auch immer das sein soll – die historischen Kubaturen wiederherzustellen. Möglichst mit angeklebten Barock-Fassaden…
Aber zurück zu Mary Shelley. Ihr Buch – vom Verlag wie üblich trefflich mit zeitgenössischen Bildern illustriert – macht Lust, sich auf die Spuren der Autorin zu begeben. Denn „was könnte herrlicher sein, als immer wieder Neues zu erleben, als der unerschöpfliche Strom neuer Ideen, die einem auf Reisen begegnen? […] Reisen ist ein Buch, das der Schöpfer selbst geschrieben hat, und es enthält höhere Weisheiten als das gedruckte Wort des Menschen.“ So Mary Shelley – ich empfehle ihnen das Buch ohne jede Einschränkung und warte selbst mit großer Spannung auf den zweiten Band.

Mary Shelley: Streifzüge durch Deutschland und Italien in den Jahren 1840, 1842 und 1843. Band Eins, CORSO, Wiesbaden 2017, 254 Seiten, 24,00 Euro.