von Alfons Markuske
Wenn David Cornwell ein neues Buch auf den Markt bringt, dann darf ein Bestseller erwartet werden, denn sein künstlerisches Alter Ego ist – John le Carré.
International bekannt wurde er durch „Der Spion, der aus der Kälte kam“. Das Buch erschien 1963, und er hatte es geschrieben, während er für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 – den Circus (O-Ton le Carré) – im Konsulat seines Landes in Hamburg tätig war. Es war bereits sein dritter Roman um den britischen Spionage-Wizard George Smiley, aber erst für diesen erteilte ihm Thriller-Kollegen Graham Greene den Ritterschlag: „Die beste Spionagegeschichte, die ich je gelesen habe.“
Nun gibt es – über 50 Jahre später – ein Prequel samt Nachspiel zum damaligen Plot: „Das Vermächtnis der Spione“. Der Anlass ist vergleichsweise profan: Cornwells Söhne wollten den Spion aus der Kälte zum Stoff für eine Miniserie zu machen und mussten feststellen, dass die Story dafür zu dünn ist. Da kam der Papa auf die Idee, sie durch Vor- und Nachlauf gehörig aufzupeppen.
Le Carrés Idee dafür ist allerdings brillant: Sein Spion hatte damit geendet, dass der Circus-Mann Alec Leamas samt seiner Geliebten Elisabeth Gold zwar den Fängen der Stasi in Ostberlin entkommt, aber beim Versuch, die Mauer nach Westberlin zu übersteigen, erschossen wird. Jahrzehnte später, der Kalte Krieg und die alten Feindschaften sind Geschichte, drohen die Kinder von Leamas und Gold sowie einer DDR-Agentin des Circus mit dem Decknamen Tulip, die erst jetzt eingeführt wird, aber schon vor Leamas und Gold ebenfalls zu Tode kam, dem MI6 mit einer gerichtlichen Klage wegen irgendwas zwischen fahrlässiger Tötung, unterlassener Hilfeleistung und vorsätzlichem Mord – alles „aus eher unappetitlichen Gründen einer machiavellistischen Staatsräson“, wie es in einer Besprechung im Deutschlandfunk Kultur trefflich hieß. Der Circus will das und den dadurch allfälligen öffentlichen Skandal verhindern. Notfalls dadurch, dass er George Smiley und dessen früheren Mitarbeiter Peter Guillam über die Klinge springen lässt.
Mehr vom Inhalt soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Erneut ist der Faden von le Carrés Erzählung fein gesponnen, und ergeben lakonische Tonlage und trockene Ironie jene unvergleichliche, faszinierende Melange, wie man sie dergestalt nur von englischen und amerikanischen Autoren kennt. Darin gehört le Carré zu den besten – solange sich seine Handlung in westlichen Gefilden bewegt und kein Personal von ostwärts des Eisernen Vorhanges auftritt. Denn das war ostdeutschen Lesern ja schon beim Spion sauer aufgestoßen: Kommen Stasi-Leute vor, treten geworbene oder sich angedient habende Agenten aus der DDR auf, verlagert sich das Geschehen gar auf gegnerisches Territorium, dann wird es grobschlächtig, klischeehaft, missraten Tonart, Milieu und Atmosphäre. Teils bis ins Groteske.
Das war dem Autor Anfang der 1960er Jahre nicht vorzuwerfen, denn es gab ja nie, wovon der Spion ebenso handelte wie der jetzige Roman, „eine ostdeutsche Superquelle, vielleicht auch mehrere“. Und schon gar nicht hatte der britische Dienst solch eine Quelle – noch dazu an maßgeblicher Position – im Apparat der Staatssicherheit. Wie die im Inneren funktionierte, welcher, um einen im Westen gebräuchlichen Begriff zu verwenden, Korpsgeist dort herrschte, wie sich Dienstlaufbahnen gestalteten und Leitungspositionen besetzt wurden – in solchen Fragen war Mielkes Truppe bis 1989 nicht nur für die Briten eine Black Box. Da konnte le Carré seiner westlich geprägten Phantasie freien Lauf lassen, und die führte ihn mehr als einmal ziemlich in die Irre.
Das sieht über 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges allerdings anders aus. Wenn dann nämlich immer noch die Rede davon ist, der Mann des Circus im Stasiapparat solle sich auf den frei werdenden Posten eines Vorgesetzten „bewerben“, dann zeugt dies von struktureller Unkenntnis mit schon leicht blamablen Zügen.
Weitere sachliche Fehler des neuen Buches hätten bei einigermaßen sorgsamer Recherche schon vom Autor vermieden werden können und von seinem deutschen Übersetzer (und Verlag) in jedem Fall vermieden werden müssen:
- Wer „mit Thälmann im Spanischen Bürgerkrieg [kämpfte]“, der ist ein Schwadroneur von besonders hohen Graden.
- Wer in Westberlin für operative Zwecke ein Haus „im Stil des Biedermeier“ auswählte, bewies damit vielleicht manches, aber gewiss nicht „einen Geschmack für kaiserliche Nostalgie“. Biedermeier war 1815 bis 1848…
- Wer als „zairischer Landwirtschaftsminister“ einem DDR-Mediziner vor 1961 eine Flasche Cognac schenkte, der wiederholt dies heute wahrscheinlich als sowjetischer Kulturattaché in London mit einer Flasche Wodka gegenüber einem geschätzten britischen Autor.
- Wer Ende der 1950er Jahre mit dem Auto von Ostberlin nach Dresden fahren und unterwegs eine weitere, ebenfalls aus Ostberlin stammende Person zusteigen lassen wollte, der verabredete sich mit dieser bestimmt nicht „fünf Kilometer westlich von Cottbus“ und schon gar nicht, um von da aus noch weiter „nach Osten“ zu wollen.
- Wer in Ostberlin ein Motorrad bestieg, war keinesfalls nach „zwei Stunden Fahrt“ am Ziel, wenn dieses westlich von Weimar lag.
- Und an der Spitze der SED agierte auch nach dem Mauerbau kein „Präsidium“.
Vollends zur Lachnummer geraten ist dem Autor jedoch die Figur mit dem Decknamen Tulip. Die hat Mitte der 1950er Jahre in Jena und Dresden Studienabschlüsse erworben – in „Politologie“ (gab es bis Ende der DDR in dieser gar nicht) sowie „Soziologie“ (entwickelte sich immerhin seit Anfang der 1960er Jahre) und ist tätig als persönliche Assistentin eines höheren „Stasibeamten“ (Hervorhebung – A.M.), der sie sexuell missbraucht. Nach außen hin gibt Tulip die „ergebene, fleißige Genossin“, die jedoch „alles am Leben in der DDR hassen […] und heimlich Trost im Glauben an Gott […] finden würde“. Zu allem Überfluss wohl auch noch auf russisch-orthodoxe Weise, denn ihr „Schutzheiliger war der Hl. Nikolaus von Myra, dessen Miniaturikone“ sie mit sich führt, als der Circus sie via Prag exfiltriert. Den Amerikanern wollte sie sich nicht andienen, denn sie sei, wie sie bekundet, „Kommunistin“: „Das imperialistische Amerika sei der Feind.“ Aber: „Sie ist zu der Überzeugung gelangt, England uneingeschränkt vertrauen zu können.“ Das spricht natürlich für das Urteilsvermögen dieser le Carréschen Figur, denn London hatte ja gerade erst wieder – 1956, zusammen mit Frankreich und Israel – seinen nichtimperialistischen Charakter unter Beweis gestellt. Mit der Besetzung der Suezkanal-Zone.
Was sonst noch? Tulip träumt davon, ihren vergewaltigenden Vorgesetzten „nach Moskau zu begleiten und den Roten Platz bei Nacht zu sehen“. Ihr „am häufigsten wiederkehrender Traum sei“ jedoch, „eines Tages einen hübschen Engländer zu heiraten“. Dafür öffnet sie vor englischem Zuschauer schon mal „lässig den Gürtel ihres Strandumhangs […] und enthüllt ihren nackten Körper in all seiner unbezweifelbaren Pracht“.
Und worin besteht nun das Vermächtnis der Spione? Nach George Smileys Worten darin, dass alles, war er, Smiley, im Circus getan hatte, nicht im Namen des Kapitalismus („Gott bewahre.“) oder des Christentums („Gott bewahre.“) geschehen sei, nicht einmal für England („Welches England?“), sondern für „den Weltfrieden, was immer das ist“ und – „für Europa“. Letzteres darf in Zeiten des Brexit durchaus als politisches Statement des Autors gewertet werden.
Wem das nun aber doch etwas zu weit hergeholt oder auch nur zu pathetisch ist, dem bleibt mindestens noch eine weitere Antwort. Die gibt der ehemalige Circus-Mann Peter Guillam, als er auf die Frage, warum er und seinesgleichen selbst bei Staatsorganen (außerhalb der Geheimdienstwelt) höchst unbeliebt gewesen seien, erwidert: „[…] weil wir ein Haufen hochnäsiger Schwuchteln waren, deren Hauptaufgabe im Leben darin bestand, gegen das Recht zu verstoßen.“
Zur Bestätigung dieses Bekenntnisses legt der Autor einem kollateralen Opfer des Circus noch drastischere Worte in den Mund: „Ihr seid alle krank, ihr Spione. Ihr seid nicht das Heilmittel, ihr seid die verfluchte Krankheit. Vollidioten, die vollidiotische Spielchen spielen und sich für die allerklügsten […] Klugscheißer des Universums halten.“
Beworben wird der Roman allenthalben unter Bezug auf des Autors legendärste Gestalt: Le Carré habe „aus seiner Schublade noch einen George-Smiley-Roman“ gezaubert (Perlentaucher), es handele sich „das große Finale der George Smiley-Serie“ (DIE ZEIT). Wer sich daher auf ein ausgewachsenes Wiedersehen mit Smiley freut, wird herb enttäuscht sein. Von Smiley ist zwar immer wieder die Rede, aber der Auftritt des Meisters selbst ganz am Ende des Buches ist nur eine ganz knappe Episode.
John le Carré: Das Vermächtnis der Spione, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017, 320 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Alec Leamas, Alfons Markuske, Berliner Mauer, Circus, George Smiley, John le Carré, kalter Krieg, Spion, Stasi