20. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2017

Friedrich Engels: Der Amerikaner

von Lutz Unterseher

Friedrich Engels war von den Vereinigten Staaten fasziniert: von der schie­ren Größe des Landes und seinem Entwicklungstempo. Aufmerksam verfolgte er das Geschehen im amerikanischen Bürger­krieg, den er in einem Artikel in der Wiener Zeitung Die Presse vom 26. März 1862 als „ein Schau­spiel ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“ be­zeichnete. „[…] die ungeheure Aus­dehnung des streitigen Territoriums; die weit­ge­streckten Fronten der Ope­rationslinien; die numerische Masse der feind­li­chen Armeen, die Art ihrer Leitung und die allgemeinen taktischen und stra­tegischen Prinzipien, nach denen der Krieg geführt wird, sind alle neu in den Augen des europäischen Zuschauers.“
Zuschauer? In der Tat fühlte Engels sich gut informiert, befand er sich – als Emigrant in England – doch am anderen Ende des gerade erst gelegten transatlantischen Tele­gra­fen­kabels. Freilich saß Engels gelegentlich dennoch gewissen Verzerrungen auf, die der Zeitungsberichterstattung in den Vereinigten Staaten geschuldet waren.
Selbstverständlich schlug sein Herz für die Nordstaaten (die „Union“), erschienen die­se doch wegen ihrer Industrialisierung den „Sklavenhalterstaaten“ des Sü­dens (der „Konföderation“), geschichtsphilosophisch gesehen, einige Entwicklungsstufen voraus. Doch Engels, um Objektivität bemüht, konnte und wollte herausragenden militärischen Leistungen des Südens seinen Respekt nicht versagen. So zeigte er sich von der operativen Kunst des bedeu­tendsten Süd­staatengenerals Robert E. Lee sehr beeindruckt. Als Oberbefehlshaber der Hauptmacht der Konföderierten, es waren die Truppen, die zwischen der Unionshauptstadt Washington D. C. und Rich­mond, der Hauptstadt des Südens, zum Schutze letzterer standen, zeigte dieser wiederholt größtes militärisches Talent (und zwar nicht nur in den Augen unseres europäischen Zuschauers).
Lee verstand es, den Unionstruppen mit zahlenmäßig unterlegenen Kräften, taktisch flexibel und den Vorteil des Verteidigers einstreichend, ent­scheidenden Landgewinn zu verweigern. Zugleich war es ihm immer noch möglich, aus seiner ohnehin knappen Verfügungsmasse be­trächtliche Trup­pen­kontingente gleichsam „auszuschwitzen“, die den Auf­trag erhielten, gefährliche Flan­ken­stöße in Unionsgebiet hinein zu unter­nehmen. Alles in allem kam es zwischen den beiden Hauptstädten zu einer Art blutigem Patt ungleicher Kräfte.
Friedrich Engels widmete sich mit Eifer dem Problem, wie die Nord­staaten diese Situation überwinden könnten. Dabei formulierte er eine kluge Kritik des in der Union zu diesem Zweck zunächst ventilierten Kon­zepts (so, wie er es sah), ließ es aber dabei nicht bewenden. Er lieferte nämlich eine Ideenskizze dazu, was denn aus seiner Sicht zu tun sei. Dabei spielte – vor dem Hintergrund seiner Beobach­tungen – der Kampf um die Verbindungslinien des Südens, sprich: das Eisenbahnnetz, eine Schlüsselrolle.
Wie wir noch sehen werden, waren seine Betrachtungen originell und von beträchtlicher Plausibilität. Plausibler als seine dialektische Prognostik des Umschlagens der etablierten Machtverhältnisse in den schließ­lichen Sieg der Arbeiterklasse. So drängen sich Fragen auf, die aber nicht unbedingt ernst ge­nommen werden müssen: War Engels als Philosoph eine Fehlbesetzung, und hätte er nicht besser ein echter General werden sollen, statt diesen Rang nur als Spitznamen zu tragen?
Winfield Scott, Oberbefehlshaber des US-Heeres bei Beginn des Bür­gerkrieges im April 1861, dann der Unionstruppen, wurde schon Ende 1861 durch den intriganten George McClellan ersetzt (vorher Präsident einer Eisenbahn­linie und 1864 demokratischer Präsidentschaftskandidat gegen Abraham Lincoln). Der glücklos und zögerlich operierende McClellan hielt sich nur kurz in militärischen Spitzenämtern. Ende 1862 war er bereits Oberbefehls­haber und danach Befehlshaber der Potomac-Armee (zum Schutze von Washinton D. C.) gewesen.
Gleichwohl wurde, wie Engels der amerikanischen Presse zu entneh­men meinte, sein Name mit einem strategischen Ansatz identifiziert, der ursprünglich von Winfield Scott stammte und der in der Presse als „Anakonda“-Plan figurierte. Dabei ging es um die Überwindung des Patts durch ein umfassendes Einschnüren der Süd­staaten. In seiner realistischen Variante wurde dieser Plan über die Ära McClellan hinaus erfolgreich durchgeführt. Es gelang nämlich den Unionstruppen, von Nor­den und von Süden her den Mississippi unter Kontrolle zu bringen. Damit waren die westlichen Südstaaten (Arkansas, Louisiana, Te­xas) von der Konföderation abgetrennt und letztere an ihrer West­flanke abgeriegelt. Die andere Flanke bildete die lange Meeresküste der Südstaaten: am Atlan­tik und auch am Golf von Mexiko. Hier war eine Seeblockade vor­gese­hen, die – nachdem diese durch ein energisches Schiffbaupro­gramm der Uni­on Gestalt angenommen hatte – zunehmend er­stickende Wirkung zei­tigte.
Friedrich Engels hingegen saß einer eher unrealistischen Variante von „Anakonda“ auf, die er meinte, amerikanischen Blättern entneh­men zu können. Er vermutete nämlich, dass man den Ring um die Süd­staaten von allen Seiten immer mehr zuziehen wollte – und zwar durch bewaffnete Vorstöße. Dabei hätten dann auch Seelandungen – vor allem entlang der Atlantikküste – eine wichtige Rolle gespielt: Landungen, die eher probe­wei­se an der nördlichen Küste der Südstaaten bereits unternommen worden waren.
Engels erkannte, dass ein von einer solch weiten „äußeren Linie“ aus­gehender Strangulationsversuch erhebliche Kräfte benötigte, deren Ak­ti­onen hervorra­gend koordiniert sein müssten: so gut, dass – falls der auf der „inneren Linie“ kämpfende Gegner sich gegen Teile des Umfassungs­ringes wandte – durch gegenseitige Unterstützung hinreichende Kräfte zur Ab­wehr verfügbar wären. Dies aber erscheint als im Krieg prinzipiell problematisches Konzept: Hoher Koordinationsbedarf ist immer ein Ein­fallstor unerwarteter Störungen.
Engels am 27. März 1862 in der Wiener Presse:
„Die von McClellan beeinflussten amerikanischen Blätter machen viel Wesens mit der Anakonda-Umschlängelungstheorie. Danach soll eine ungeheure Linie von Armeen die Rebellion umschlingen, nach und nach die Glieder zusam­menziehen und den Feind schließlich erwürgen. Dies ist rein kindisch.
Es ist eine Aufwärmung des in Österreich um 1770 erfundenen so genannten Kordonsystems, das mit so großem Starrsinn und mit so bestän­di­gem Fehlschlag von 1792 bis 1797 gegen die Franzosen angewendet wur­de. […] Die Franzosen schnitten die ‚Anakonda‘ entzwei, indem sie an einem Punkt, wo sie überlegene Kräfte konzentriert hatten, losschlugen. Dann wurden die Stücke der ‚Anakonda‘ der Reihe nach zerhackt.“
Die Kritik Engels’ war luzide und plausibel – allerdings am falschen Objekt.
In dem zitierten Presse-Artikel vom 27. März 1862 stellte Friedrich Engels im Übrigen auch die Frage, wie man den Sezessionsstaaten im Süden denn sonst beikommen könne:
„In gut bevölkerten und mehr oder minder zentralisierten Staaten gibt es stets ein Zentrum, mit dessen Besetzung durch den Feind der nationale Widerstand gebrochen würde. Paris ist ein glänzendes Beispiel. Die Skla­venstaaten jedoch besitzen kein solches Zentrum […. Es fragt sich also: Existiert trotzdem ein militärischer Gravitations­punkt, mit dessen Wegnahme das Rückgrat ihres Widerstandes bricht […]?“
Engels hatte die Karte studiert und fand, „dass Georgia der Schlüssel der Sezession ist.“ In der Tat galt Georgia als das eigentliche Herz der Südstaaten und war deren Kornkammer: materielle Basis der Kriegsanstrengungen des Südens. Sein Befund: „ […] in einem Land, wo die Kommunikation, nament­lich zwischen entfernten Punkten, viel mehr von den Eisenbahnen als von Landstraßen abhängt, genügt die Wegnahme der Eisenbahnen.“ So wäre „mit dem Verlust Georgias die Konföderation in zwei Stücke geschnitten, die alle Verbindung untereinander verloren hätten.“
Ein „Zerschneiden“ der Konföderation durch die „Wegnahme“ der Eisenbahnen in Georgia. Dies war genau das Kon­zept, das William Sherman etwas mehr als zwei Jahre nach der Publikation Engels’ mit sei­nem berühmten „Marsch zum Meer“ realisieren sollte: vom Westen her bis an die Atlantikküste. Es war die Operation, die letztlich zum Ende des konföderierten Widerstandes an der Hauptfront im Norden führte.
Freilich gibt es keinen Hin­weis, dass der Unionsgeneral von des deut­schen Philosophen Überlegungen Notiz genommen hätte (oder hätte neh­men können). Helle Geister kommen unabhängig voneinander zu unge­wöhnlichen Schlüssen.

Teil 1 des Beitrages erschien im Blättchen 23/2017.