20. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2017

Brennglas Sachsen

von Stephan Wohanka

Folgendes wird über den Abend der Bundestagswahl kolportiert: Sachsens CDU war gerade politisch implodiert und hatte weniger Stimmen als die AfD eingesammelt, als Ministerpräsident Stanislaw Tillich einen befreundeten Bürgermeister angerufen und gefragt habe: „Du, sag mal, was ist da eigentlich los?“ Ganze Dörfer hatten mit 30, 40 und mehr Prozent die Rechtspopulisten gewählt.
Die Frage macht staunen – nur ältere Bürger Sachsens erinnern sich an Zeiten, in denen es in ihrem Land keine CDU-Regierung gab. Vor der CDU war die DDR und danach Kurt Biedenkopf. Der weckte einen überbordenden Stolz der Sachsen auf sich selbst; der „Freistaat Sachsen“ wurde zum Musterland. Schon unter „König Kurt“ wurde über politische Widersprüche und Probleme nur ungern gesprochen. Die Union gewann alle Landtagswahlen, stellte die meisten Landräte und Bürgermeister und kam sich vor, wie die CSU in Bayern: Sie konnte vor Kraft kaum laufen.
So wurde über Jahre die NPD ignoriert, bis die Neonazis zehn Jahre im Dresdner Landtag saßen und Rassismus und Fremdenhass predigen konnten. Die „Leuchtturmpolitik“ wurde erfunden, Sachsens wirtschaftspolitisches Credo: Dresden, Leipzig, Chemnitz, die Zentren stärken, dort investieren; Milliarden gab man für die Ansiedlung von Chip- und Autoindustrie und entsprechende Forschungseinrichtungen aus. Kultur und Wissenschaft wurden gefördert, der Straßenbau. Ansonsten wurde beinhart gespart. Das Licht sollte dann auf das Umland fallen…
Später kam dann Tillich – „der Sachse“, „einer von uns“. Obige kleine Geschichte erzählt einiges: Tillichs Rückzug war nach all den Jahren des Aussitzens, des Nichtregierens überfällig. Konflikten ging er aus dem Weg, er schickte seine Minister dahin, wo es Ärger und rechte Ausschreitungen gab, ob drohende Firmenschließungen oder Krawalle in Freital, Bautzen, Meißen. Tillich kam erst, wenn es absolut unvermeidlich war. Die Geschichte erzählt auch, wie abgehoben, teils rücksichtslos und ohne Draht zur Wirklichkeit in Sachsen auch nach Biedenkopf Politik gemacht wurde. Pegida? Eine vor allem außerhalb des Freistaates aufgebauschte Gefahr. Sächsische Nazi-Hochburgen, Wutbürger, die hasserfüllt auf Politiker losgehen, brennende Flüchtlingsunterkünfte – alles nichts, was die Regierungspartei zum Handeln hätte bewegen können.
Die Frage, warum in ihrem Bundesland, in dem es wenig Ausländer und noch weniger Muslime gibt, die Fremdenfeindlichkeit so exorbitant groß ist, hat christdemokratische Landespolitiker nie sonderlich beschäftigt. Wenn es galt, Kritik von außen abzuwehren und Selbstkritik zu vermeiden, waren sie um Worte nie verlegen – „Sachsenbashing“.
Wirtschaftspolitisch wurde unter Tillich noch stärker auf das Sparen gesetzt. Im Ehrgeiz, sich als Land mit der geringsten Verschuldung zu profilieren, fährt man seit Jahren die Sollstärke der Polizei herunter und spart an Lehrern; es gäbe „zu viele Staatsdiener in Sachsen“. Der Freistaat leistet sich derzeit 86.000 Landesbedienstete, mittelfristig sollte diese Zahl auf 70.000 schrumpfen.
Dazu wird es nun nicht mehr kommen. Denn die sächsische Regierung vor der Bundestagswahl ist auch die danach; nur mit einem neuen Mann an der Spitze: Michael Kretschmer höchstwahrscheinlich. Auch „einer von uns“, schon lange dabei. „Wir werden Geld in die Hand nehmen“, verspricht er. „Wir müssen einen Plan für Sachsen machen“. Nun geht, was bisher undenkbar war im knickrigen Sachsen; sogar die Verbeamtung der Lehrer… Der noch Finanzminister kommentierte die sinkende Lehrerzahl so: „Ob dort (in den Klassen – St. W.) 28 oder vielleicht auch einmal 30 Schüler sitzen, …, das hat keine Auswirkungen. Vielmehr kommt es immer auf den Lehrer an, der vor der Klasse steht“. Mehr als bemerkenswert; statt Finanzminister sollte der Mann für Bildung zuständig sein.
Sachsen ist ein politischer Hexenkessel. Die Linkspartei hat den Draht ins Land verloren, sie schrumpft, sie ist überaltert, sie ist nicht mehr Kümmerer oder Protestsammler wie noch vor Jahren. SPD und Grüne spielen im Land und auf dem Land kaum eine Rolle. So verhallten auch Mahnungen dieser Parteien in Richtung CDU bezüglich deren Sparexzesse ungehört: „Der Staat ist schon heute an vielen Stellen kaum noch handlungsfähig“.
Auch Frauke Petry stand in Sachsen zur Wahl. Ihr Wahlsieg ist deshalb interessant, weil typisch: Trotz massiver Behinderungen durch ihre eigenen „Parteifreunde“ sowohl in der Bundesspitze der AfD als auch vor Ort und auch eigener Passivität (so sagte sie ihre Abschlusskundgebung in Görlitz ab); triumphierte sie trotzdem. Sie jagte einen CDU-Politiker, seit 1990 Bundestags-Abgeordneter, mit fast zehn Prozent Differenz von dessen politischen Erbhof; allein deshalb, weil es um etwas anderes ging als um konkrete Politik vor Ort – nämlich um Grundsätzliches wie Merkels Flüchtlingspolitik, die Überforderung, die Angst vor Fremdem, Wut auf den Westen; etwas, das die sächsische Integrationsministerin an den Herbst 1989 gemahnt: „Die Menschen im Osten haben mit dem Mauerfall erlebt, wie schnell es zu einer völlig neuen Lebenssituation kommen kann. Nun befürchten sie, dass noch einmal Neues auf sie zukommt. Dafür fehlt ihnen die Kraft“.
Was unter Biedenkopf begann und nun mit Tillich seinen Gipfelpunkt erreichte sind die psychosozialen Verwerfungen über all die Jahre: Erst Massenarbeitslosigkeit, Betriebsschließungen, zu wenig neue Arbeit, sondern stattdessen Zeitvertreib und billiger Massenkonsum, dann die Abwanderung einer Generation Richtung Arbeit und Westen, das Ausbluten ganzer Landstriche, Schulschließungen, Ärztemangel, ausgedünnter Nahverkehr, langsames Internet, überforderte Gerichte… bis hin zu solchen Kuriositäten, dass der Ausbau des Digitalfunks der Feuerwehr stockt, weil es an Personal fehle, Förderanträge zu bearbeiten. In der Summe das Gefühl: Wir Übriggebliebenen gehören nicht dazu, niemand interessiert sich für uns.
In Sachsen bündeln sich wie in einem Brennglas die sozialen und politischen Probleme der ganzen Republik: Das Vertrauen in die Bundespolitik hat einen Tiefststand erreicht. Die Berliner Große Koalition und namentlich die CDU wurden desgleichen krachend abgewählt. Nicht genug der Parallelen – auch Merkels Reaktion auf den Wahlausgang gleicht der Tillichs und lässt ein völliges Unverständnis dessen erkennen, was vorfiel: Sie sei „nicht enttäuscht“ und „sehe nicht, was wir anders machen sollten“. Auch in Berlin regierten CDU geführte Regierungen seit 2005 das Land und führten es trotz zuletzt guter Wirtschaftsdaten in eine verhängnisvolle Abwärtsspirale, bewirkt durch die „Schwarze Null“.
Ein Weiter-So, warme Worte und offene Ohren reichen nicht mehr; die Zustände sind genug besprochen, die Gründe sind klar. Wenn sich Merkel neben ihrer Ignoranz noch etwas politischen Gestaltungswillen bewahrt hat, dann muss sie die bisher mal so und mal so adressierten Fragen: Woher kommt die Wut? Welche Enttäuschungen machen sich Populisten zunutze? Warum nimmt der Wohlstand zu, aber auch die Ungleichheit? Vor allem: Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie? endlich selbst beantworten. Und das zusammen mit denen, die politisch für Bedingungen verantwortlich zeichnen, die zu Frust und Vertrauensverlust führten und führen.
Demokratie als Selbstzweck überzeugt nicht mehr, wenn die Politik nicht gegen Steueroasen vorgeht und die fünf reichsten Deutschen so viel besitzen wie 40 Prozent der Bevölkerung; und das angesichts fehlender Wohnungen, bröckelnder Schulen, maroder Infrastruktur, Pflegenotstand, überforderter Polizei… Es ist an der Zeit, dass die in den Bundestag Gewählten und an der Regierungsbildung Beteiligten sich endlich ihrer politischen Verantwortung stellen. Die Unterhändler drehen momentan zwar hochtourig – aber doch im Leerlauf. So entweicht die positive Energie, die es für einen echten Neubeginn braucht. Der ist umso wichtiger, als dass es mit Jamaika zu einer Regierung käme, die politisch im Osten kaum verankert ist.